Leichtgewichts-Ruderer Jason Osborne strebt nach seiner Karriere im Ruderboot eine Laufbahn als Radprofi an – nach der Olympia-Verschiebung nun ein Jahr später als geplant. Vor seinem endgültigen Wechsel aufs Rad hat er noch eine olympische Mission: eine Medaille in Tokio.
Zum Treffen auf Höhe von Rheinkilometer 497 kommt Jason Osborne weder mit dem Ruderboot noch mit dem Rennrad, sondern mit dem Auto. Wer gleich beide Sportarten quasiprofessionell betreibt, verbringt nicht nur viel Zeit an der frischen Luft, sondern auch auf vier Rädern. Osborne trainiert derzeit ausschließlich in seiner Wahlheimat Mainz, weil Corona auch ihm einen Strich durch die Planung gemacht hat, und das gleich doppelt: Die Olympischen Spiele im Sommer hätten das Finale seiner ersten Leistungssportkarriere sein sollen. Anschließend wollte der 26-Jährige seine zweite Leidenschaft zum Beruf machen und eine Laufbahn als Radprofi starten. Der ungewöhnliche Sportartenwechsel muss nun zwölf Monate warten.
„Das ist natürlich im Moment besonders demotivierend, weil man auch nicht weiß, ob die Spiele im nächsten Jahr stattfinden können“, sagt Osborne, Sohn einer Deutschen und eines Briten, geboren im Ruhrgebiet. Deswegen schielt er dieser Tage bereits besonders auf die zweite Karriere als Radprofi, die ihm von vielen Experten durchaus zugetraut wird. In der Pandemie-bedingten Trainingspause sattelte er mehr und mehr aufs Rad um, fuhr in den ersten fünf Monaten des Jahres schon mehr als 10.000 Kilometer. Trotzdem ist für ihn klar: Die Teilnahme an seinen zweiten Olympischen Spielen will er auf keinen Fall wegwerfen. Mit seinem Zweierpartner Jonathan Rommelmann hat Osborne nach WM-Bronze 2019 die Qualifikation bereits in der Tasche. „Und“, so glaubt er,
„wir haben in Tokio auch gute Chancen auf eine Medaille.“
Für die Medien ist die Story des radfahrenden Ruderers natürlich ein Glücksfall. Ein deutscher Quereinsteiger, dazu vielleicht sogar auf den letzten Drücker mit einer Olympia-Medaille dekoriert, in der früher so verschlossenen Welt des Profiradsports – das hat Potenzial. Und erinnert verdächtig an den Slowenen Primoz Roglic, der als Skispringer einst Juniorenweltmeister wurde, 2019 die renommierte Radrundfahrt Vuelta a España gewann und nicht erst seitdem ein weltweiter Star ist. Auch Jason Osborne weiß um den großen PR-Effekt, den sein angekündigter Sportartenwechsel mit sich bringt. Einen Profi-Vertrag hat er noch nicht unterschrieben, sich aber einer Sportvermarktungsagentur angeschlossen. Es ist davon auszugehen, dass sein Weg von mehreren Profi-Teams aufmerksam verfolgt wird.
Als Zehnjähriger fing Osborne an zu rudern, seine Liebe für den Radsport entwickelte er erst vergleichsweise spät. 2013, nach dem Wechsel nach Mainz, das als guter Standort für Leichtgewichts-Ruderer gilt, riet ihm sein Trainer, zum Ausgleich aufs Rennrad zu steigen – inzwischen Standard im Rudersport. Nach einiger Zeit begann er, sich Feedback zu holen, seine Leistungen über Tracking-Apps und Social Media zu vergleichen. Und bemerkte, dass er außergewöhnliches Talent zu haben scheint. 2018 meldete sich der Ruderer für das Einzelzeitfahren bei der Deutschen Straßen-Radmeisterschaft an und wurde prompt Achter. „Gar nicht so schlecht“, sei das gewesen, findet Osborne. Im vergangenen Jahr landete er bei der DM sogar auf Rang sechs. Das Radfahren lässt sich problemlos ins Rudertraining integrieren, sodass er mittlerweile beide Sportarten intensiv betreibt. Zwei- bis dreimal pro Woche rudert Osborne seine jeweils 20, 25 Kilometer auf einem Seitenarm des Rheins, hinzu kommen schnell mehrere Hundert Kilometer auf dem Rennrad. Parallel feierte er große Erfolge in seiner eigentlichen Kerndisziplin, dem Rudern. Mit seinem früheren Partner Moritz Moos wurde Osborne zweimal Junioren-Weltmeister, mit dem Leichtgewichts-Doppelvierer gewannen beide 2013 WM-Silber. Im Zweier qualifizierten sie sich für Olympia in Rio und wurden dort, etwas enttäuschend, Neunte. 2018 ruderte Osborne im nicht-olympischen Leichtgewichts-Einer zu WM-Gold, im vergangenen Jahr saß er erstmals mit Jonathan Rommelmann im Boot und wurde sofort Europameister, gewann die Weltcup-Gesamtwertung und Bronze bei der WM – die erste deutsche Medaille in dieser Disziplin seit 20 Jahren. Das logische nächste Ziel lautet nun olympisches Edelmetall. So oder so seine letzte Chance: In Tokio ist das Leichtgewichts-Rudern, erst 1996 eingeführt, um den Sport auch für nicht traditionelle Ruder-Nationen zu öffnen, letztmalig im Wettkampfprogramm. Für die dann in der Folge nicht-olympischen Leichtgewichts-Ruderer wird das auch Folgen für die Förderung ihrer Disziplin haben. Die Entscheidung, nach Tokio umzudenken, hat das IOC Osborne also mehr oder weniger abgenommen.
Aber auch wenn er grandiose Leistungswerte zu bieten hat: Eine Garantie für den schnellen Erfolg im Radsport ist das keineswegs. Osborne weiß, dass er in Sachen Taktik, Erfahrung und Renngeschick Nachholbedarf hat. „Das wird sicher ein hartes Stück Arbeit, ist aber machbar“, glaubt der knapp 1,80 m große Athlet. Sein Ziel ist die World Tour, die erste Liga der Radfahrer. Dass er gut Zeitfahren kann, hat er bereits bewiesen, aber auch am Berg rechnet er sich Chancen aus, ebenso bei Ein-Tages-Klassikern. Und sagt:
„Ich hätte schon auch Lust, irgendwann sagen zu können, dass ich die Tour de France gefahren bin.“
Wenn er sich seine Traumrolle aussuchen könnte? „Dann die des Edelhelfers, des letzten Anfahrers am Berg“, so Osborne. Die legendäre Bergankunft Alpe d’Huez ist er vergangenes Jahr schon einmal probehalber gefahren. In der virtuellen Rad-Bundesliga jagte er den digital nachempfundenen Anstieg jüngst von zuhause aus hoch und deklassierte dort mit seinem Antritt die versammelte Konkurrenz. In diesen Momenten findet er es „schon zufriedenstellend, wenn man neben dem Rudern merkt, es gibt noch etwas Zweites, in dem es gut läuft“. Und außerdem? Seine Ausbildung zum Bankkaufmann hat er abgebrochen, denkt nun darüber nach, sein Abitur nachzuholen. Wer mit Jason Osborne spricht, merkt schnell: dieser Mann lebt für den Sport. Kaum verwunderlich also, dass er sich später einmal eine Karriere als Ruder-Trainer vorstellen kann.
Noch aber steht er erst vor dem Finale seiner ersten Laufbahn als Leistungssportler und hat noch das große Ziel Tokio vor Augen – begleitet von der Sporthilfe, die ihn seit 2013 unterstützt, derzeit in der Mercedes-Benz Elite-Förderung und der höchsten Förderstufe ElitePlus, finanziert von PwC. Die Atmosphäre in Rio hat Jason Osborne vor vier Jahren aufgesogen, er hofft, 2021 in Tokio noch einmal vor Zuschauern aus aller Welt rudern zu dürfen und sich nach kräftezehrenden 2.000 Metern im Ziel diesmal über eine Medaille freuen zu können. Dafür, findet das Multitalent, würde es sich durchaus lohnen, noch ein Jahr zu warten. Jason Osborne sitzt also weiterhin – halb im Sattel, halb im Ruderboot.
(Veröffentlicht am 17.08.2020)
Erschienen im Sporthilfe-Magazin go!d - Zur kompletten Ausgabe (2/2020)