Zwischen Mythos und Marke: Der Deutschland-Achter fasziniert Athleten, Medien und Öffentlichkeit gleichermaßen – ein Blick in den Maschinenraum des legendären Ruderboots.
Richard Schmidt kommt mit Schal zum Termin: Der Hals kratzt. Mitten in der Vorbereitung auf die vorolympische Saison, zwei Wochen vor dem Trainingslager in der Lombardei hat ihn ein kleiner Infekt mattgesetzt. "Nicht schlimm“, winkt er ab. Ginge es um einen anderen Athleten aus dem Team Deutschland-Achter, die Trainer und Betreuer wären sofort in erhöhter Alarmbereitschaft. Nicht so bei Richard Schmidt. Der 31-jährige sitzt bereits seit 2009 im Achter, er ist damit der dienstälteste Ruderer im großen Boot. Und niemand zweifelt ernsthaft daran, dass er auch in der zehnten Saison zu den acht Auserwählten gehören wird.
Dabei ist das Stand jetzt alles andere als sicher. Das Achter-Leben ist hart, sehr hart sogar. Neben „Richie“ Schmidt kämpfen rund 20 weitere hochtalentierte Athleten um einen der acht Plätze im Paradeboot des Deutschen Ruderverbands (DRV). Sie alle sind Teil des Teams Deutschland-Achter, zu dem auch der Zweier und der Vierer ohne Steuermann gehören. Sieben Tage die Woche pendeln sie zwischen dem Ruderleistungszentrum in Dortmund und ihrem Uni- oder Arbeitsplatz, zwischen Kraftraum, Ergometer und Dortmund-Ems-Kanal. Freizeit? „Gibt es so gut wie keine“, sagt Schmidt. Er hat in seiner Karriere viele Hochzeiten, Geburtstage und Geburten verpasst.
Der Aufwand ist enorm. Das muss man schon wollen.
Schmidt will es noch einmal. Tokyo 2020 wären seine vierten Olympischen Spiele, die dritten im Achter. Seine Konstanz ist auf diesem Niveau eine Seltenheit. Doch auch er weiß nicht, ob er seinen Platz für diese Saison sicher hat. Zunächst einmal sind alle Ruderer im Leistungszentrum zwar Teamkollegen, aber auch Konkurrenten. „Es ist ein Spagat“, sagt Schmidt. Vor der Kadereinteilung – das Olympia-Team etwa besteht mit Achter, Vierer und Zweier sowie zwei Ersatzleuten aus insgesamt 16 Athleten – herrscht stets angespannte Stimmung. Nach der Selektion im April müssen sich die Auserwählten dann möglichst schnell zusammenraufen, um ein Team zu bilden und harmonisch zusammen zu rudern.
Die Selektion, das ist die Auswahl anhand mehrerer Kriterien: Die Position in der Kleinboot-Rangliste, dem Zweier-Rudern, spielt eine wichtige Rolle, ebenso die Ergebnisse der Ergometer-Tests, außerdem die Winterleistung im Kraftraum. Und natürlich auch, wie gut ein Ruderer ins Mannschaftsgefüge passt. „Kredit“, sagt Schmidt, „hat absolut niemand. Das kann schon schmerzhaft sein.“ Der Trierer bildet seit einigen Jahren ein Zweiergespann mit Malte Jakschik, der mit seinen 25 Jahren auch bereits in seine fünfte Achter-Saison geht. Schaffen es die beiden ins große Boot, werden sie ziemlich sicher mit Medaillen belohnt – der deutsche Achter fährt seit nunmehr zehn Jahren in der absoluten Weltspitze mit.
Das war aber längst nicht immer so. „Die Erfolge kommen in Wellenbewegungen“, sagt Ralf Holtmeyer und untermalt seinen Satz mit einer Handbewegung. Der 62-Jährige muss es wissen, er ist leitender Bundestrainer des DRV und war als Disziplin-Trainer für die Olympiasiege 1988 in Seoul und 2012 in London verantwortlich.
In seinen fast 35 Jahren beim Verband hat er Triumphe miterlebt wie die 36 Siege nacheinander von 2009 bis 2013, aber auch einige Havarien. Den blamablen letzten Platz 2008 in Peking etwa und die verpasste Qualifikation für die Olympischen Spiele 2000. Das Fehlen in Sydney war besonders bitter, weil es exakt 40 Jahre nach dem ersten Olympiasieg eines deutschen Achters einen Tiefpunkt markierte.
Für die Medien damals ein gefundenes Fressen, schließlich gilt für den Achter nur der Titel. Begründet liegt das im Mythos, den das Flaggschiff seit 1960 mit sich herumträgt. Ralf Holtmeyer ist Jahrgang 1956 und damit ein paar Jahre zu jung, um die Legendenbildung bewusst miterlebt zu haben. Die Geschichte kennt er natürlich trotzdem in- und auswendig: Ende der 1950er formierte sich unter dem Sportlehrer und ehemaligen Amateur-Boxer Karl Adam – 2008 als einer der ersten Trainer in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ aufgenommen – ein Achter mit je vier Ruderern aus dem schleswig-holsteinischen Städtchen Ratzeburg und der Landeshauptstadt Kiel. 1959 gewann diese Auswahl bei der Europameisterschaft in Frankreich mit riesigem Vorsprung, die Medien sprachen vom „Wunder von Mâcon“, das Team wurde zur Mannschaft des Jahres gewählt. 1960 in Rom holte es fast folgerichtig Olympia-Gold. Der Mythos Deutschland-Achter war geboren.
„Die Menschen hatten damals ein gewisses Bedürfnis nach Erfolg und nationaler Identität“, sagt Holtmeyer. Wenn man so möchte, war der Triumph auf dem Lago Albano also ein etwas verspätetes „Wunder von Bern“, nur mit Wasser statt Rasen und Rudern statt Bällen. 1964 gewann die Adam-Crew Olympia-Silber, 1968 in Mexiko noch einmal Gold.
Dann war die große Zeit des westdeutschen Achters – nur dieser wurde als „Deutschland-Achter“ bezeichnet – erst einmal vorbei, die DDR zog vorbei. Zwischen 1978 und 1988 gewann der westdeutsche Achter bei Titelkämpfen nur einmal Silber, Top-Athleten mieden ihn. Man dürfe froh sein, wenn aus dem Achter keiner ertrunken war, kommentierte ein damaliger Verbandsfunktionär lakonisch.
Bis Holtmeyer kam, die Strukturen in Dortmund professionalisiert wurden und der Achter als Olympiasieger 1988 und mehrfacher Weltmeister seine Renaissance feierte. „Sofort war bei den Medien das Bewusstsein für den Mythos wieder da“, so Holtmeyer. Es sind die erwähnten Auf und Abs.
17,62Meter misst das deutsche Achter-Boot - länger als ein Sattelzug
13Olympiamedaillen sammelte der deutsche Achter seit 1912
500Trainingskilometer kommen pro Achter im Monat zusammen
Richard Schmidt dagegen reitet in seinen bislang neun Jahren im Achter ausnahmslos auf einer Erfolgswelle. Bei allen großen Regatten sprang am Ende immer Platz 1 oder 2 heraus, eine Wahnsinnsserie. Bedeutet im Umkehrschluss aber auch: Bleibt der Erfolg mal aus, hauen die Medien drauf. „Wenn der Achter nicht gewinnt, ist er schlecht. Zweiter ist eben nicht Erster“, bringt Schmidt es auf den Punkt. Schlagmann Hannes Ocik betitelte den Deutschland-Achter einst als „FC Bayern München des Ruderns“. Auch der deutsche Fußball-Rekordmeister muss mit riesigem Erwartungsdruck umgehen, immer gewinnen und an der Spitze bleiben.
Die Latte haben wir selbst hochgelegt, daran müssen wir uns nun messen lassen
Er selbst – das darf man in Dortmund nicht allzu laut sagen – hat diese Mentalität so sehr verinnerlicht, dass er sogar zum Bayern-Sympathisanten wurde. Ähnlich wie aus dem Münchner Fußballverein ist auch aus dem in Dortmund beheimateten Achter inzwischen eine echte Marke geworden – seit 1999 ganz offiziell, eingetragen beim Deutschen Marken- und Patentamt. Inhaber: Die Deutschland-Achter GmbH.
Als einziges deutsches Ruderboot lässt sich der Achter kontinuierlich und erfolgreich vermarkten. Zumindest so lange, wie der Erfolg andauert. Intern zählen der Vierer und der Zweier genauso viel, doch in der breiten Öffentlichkeit funktioniert maximal der Einer annähernd so gut wie der Achter – selbst wenn die einzelnen Ruderer darin kaum einer namentlich kennt.
Auch Richard Schmidt spaziert in der Regel unerkannt durch die Dortmunder Innenstadt. Dabei sind es Athleten wie er, die den Mythos erst zum Leben erwecken. Im perfektionierten Zusammenspiel lassen acht Ruderer und ein Steuermann das 17,62 Meter lange und mitsamt Besatzung fast eine Tonne schwere Boot nahezu schwerelos durch das Wasser gleiten.
Das wirkt generationsübergreifend: Der Achter sei „ein machtvolles, ja geradezu ein ‚mythisches‘ Symbol für eine Verkörperung einer Gemeinschafts- und Gesamtleistung par excellence“, formuliert es der emeritierte Philosophieprofessor Hans Lenk, Jahrgang 1935, Mitglied des Deutschland-Achters beim Olympiasieg 1960 und ebenfalls mittlerweile Mitglied der „Hall of Fame des deutschen Sports“: „Alle sitzen sprichwörtlich in einem Boot. Der Einzelne verschmilzt mit dem Achter, er geht in der Gruppe auf“, sagt DRV-Trainer Ralf Holtmeyer. Das motiviert auch die nachkommenden Talente, so wie exemplarisch U23-Ruderer Marc Leske, Jahrgang 1996:
Wenn acht Leute mit all ihrer Kraft das Boot zusammen beschleunigen, merkt man, wie kraftvoll das Rudern ist. Wenn der Achter ins Laufen kommt, dann schwebt er über das Wasser.
Dass hinter dem Mythos viel Schweiß, so manche Träne und immer „übelste Schinderei und Quälerei“ (Schmidt) steckt, sieht man den Bildern natürlich nicht an. Wie das eben ist mit der Übertragung von Kraft in Erfolg. Schmidt, Promotionsstudent für Energietechnik, kennt sich damit bestens aus. Er forscht an drei Tagen in der Woche an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen zur Umwandlung von erneuerbarer Energie in Wasserstoff.
Ansonsten heißt es für ihn schlafen, rudern, essen und wieder von vorne – alles für den Traum von den nächsten Olympischen Spielen im Deutschland-Achter.
(Veröffentlicht am 11. April 2019)
* 23. Mai 1987 in Trier
Sporthilfe-gefördert seit 2005
Größte Erfolge: Olympiasieger 2012, Olympia-Silber 2016, 5x Weltmeister, 7x Europameister