Die deutschen Para-Ski-Alpin-Frauen um Doppel-Paralympics-Siegerin Anna-Lena Forster rasen mit Vollgas Richtung Peking. Der Zusammenhalt im Team ist genauso groß wie die Ambitionen bei den Paralympics – trotz vieler Ungewissheiten im Vorfeld.
Südtirol, ein Medientermin in Düsseldorf, kurz in die Heimat an den Bodensee, wieder Training in Italien, noch ein Stopover daheim und am Monatsende die ersten Wettkämpfe in den Kitzbüheler Alpen, danach im Pitztal. Der Terminkalender von Anna-Lena Forster hat es in sich – und das war nur der November. Die 26-Jährige ist eine der erfolgreichsten Para-Ski-alpin-Fahrerin der Welt. Gelegenheit, dies zu beweisen, bekommt sie im Januar bei der Para-Ski-WM und im März bei den Paralympics in Peking.
Der deutsche Ski-Tross bildet eine harmonische Gemeinschaft. Hier ist einiges anders als im olympischen Alpin-Team: Die Frauen trainieren Speed- und Technikdisziplinen an einem Ort und zusammen mit den Männern. Viele Athlet:innen sind Allrounder und fahren in der Regel Slalom bis Abfahrt. Alle aktuellen Teammitglieder haben unterschiedliche Handicaps und starten in verschiedenen Klassen. Streit, so wird gescherzt, gäbe es nur darum, wer am schnellsten den Berg hinunterkomme.
Für die Frauen ist die Saison 2021/22 der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Die Paralympics in Peking und die WM in Lillehammer sind die ersten Großereignisse nach dem Karriereende von Anna Schaffelhuber, die in ihrer einzigartigen Laufbahn sieben paralympische Goldmedaillen, elf WM-Titel und 67 Weltcup-Siege sammelte und auch über die Para-Szene hinaus bekannt ist.
Sie fehlt dem paralympischen Sport in Deutschland generell und auch der Alpin-Mannschaft. Aber selbst wenn sich nach zwei Jahren ohne richtige Standortbestimmung schwer sagen lässt, wie stark die Konkurrenz zum Beispiel aus China ist, schielen in Peking fünf deutsche Frauen auf die Podestplätze. Neben Anna-Lena, die ohne rechtes und mit verkürztem linken Bein auf die Welt gekommen ist, sind das Andrea Rothfuss, der die linke Hand fehlt, Anna-Maria Rieder, die von einer halbseitigen Lähmung gehandicapt ist, sowie das Gespann aus der sehbehinderten Noemi Ristau und ihrer Guidin Paula Brenzel.
Fünf junge Frauen, die zeigen wollen, dass Para-Ski alpin ebenso attraktiv sein kann wie die spektakulären Schussfahrten der olympischen Athletinnen. Sie alle zieht die Geschwindigkeit magisch an: „Zu schnell gibt es bei uns nicht“, sagt Forster. „Ski alpin ist für mich Adrenalin und Action pur“, sagt Rothfuss. „Möglichst schnell den Berg runterzufahren, macht am meisten Spaß“, sagt Rieder. Und die nahezu vollständig blinde Ristau ergänzt: „Das Besondere am Skifahren ist für mich das Freiheitsgefühl – und die Geschwindigkeit.“
Nach dem Rücktritt von Anna Schaffelhuber ist die Psychologie-Studentin die Vorzeigeathletin im deutschen Para-Team. Von der Deutschen Sporthilfe wird Anna-Lena Forster, genannt "Leni", schon seit 2012 gefördert. Bereits zweimal, 2016 und 2019, stand sie unter den Top 5 bei der Wahl "Sport-Stipendiat:in des Jahres" von Deutscher Sporthilfe und Deutscher Bank. Ihre Heimat ist Radolfzell am Bodensee, im Winter ist sie mit dem Team aber bis zu 120 Tage in den Bergen unterwegs.
Anna-Maria Rieder steht mit 22 Jahren bereits vor ihrer zweiten Paralympics-Teilnahme. Bei den Spielen 2018 in Pyeongchang schnupperte sie als Sechste bereits am Podest. Seit 2016 wird die Oberbayerin von der Sporthilfe gefördert. Rieder wird von einer halbseitigen Lähmung auf der linken Seite beeinträchtigt. Ihren bislang größten Erfolg feierte sie mit Bronze bei der Weltmeisterschaft 2017 im Slalom. Rieder startet in der gleichen Klasse wie Mannschaftskameradin Andrea Rothfuss. (Foto: Niklas Niessner)
Noemi Ristau (links) verfügt wegen der Erbkrankheit Morbus Stargardt nur über zwei Prozent Sehkraft und ist auf die Unterstützung eines vorausfahrenden Guides angewiesen. Seit 2016 wird sie von der Sporthilfe gefördert. Ristau wird unterstützt von Paula Brenzel, die auf der Piste knapp vorausfährt und ihrer Kollegin über ein im Helm eingebautes Headset Anweisungen gibt. Brenzel, Jahrgang 1999, stammt aus Hessen und hat keine körperliche Beeinträchtigung. Gefördert wird sie wie die anderen Medaillenkandidatinnen auch: Im Paralympicskader und als Studentin mit dem Deutsche Bank Sport-Stipendium. (Foto: Niklas Niessner)
Andrea Rothfuss ist mit ihren 32 Jahren die erfahrenste im deutschen Team. Die Badenerin nahm bereits 2006 in Turin als 16-Jährige erstmals an Paralympischen Spielen teil. Rothfuss stand mit fünf Jahren zum ersten Mal auf Skiern, versuchte sich parallel auch im Schwimmerin und in der Leichtathletik, konzentrierte sich dann als Teenagerin aber auf den Skisport. Die Deutsche Sporthilfe förderte sie erstmals im Jahr 2003. In Sotschi 2014 war Rothfuss Fahnenträgerin der deutschen Paralympics-Mannschaft. (Foto: Niklas Niessner)
Wie das geht mit den Medaillengewinnen, wissen die meisten. Forster gewann 2018 zweimal Paralympics-Gold, die 32-jährige Rothfuss stand 2014 in Sotschi ganz oben auf dem Treppchen und hat insgesamt 13 paralympische Medaillen auf dem Konto. Rieder, Jahrgang 2000, war 2018 Sechste in Pyeongchang und stand bereits auf dem WM-Podest. Für das Duo Ristau/Brenzel wird Peking die gemeinsame Paralympics-Premiere.
Nach China fahren aber alle mit den gleichen Voraussetzungen. „Es wird wegen der Corona-Lage eine Reise ins Ungewisse“, glaubt Andrea Rothfuss. Sie meint damit die Hygiene- und Sicherheitsregeln vor Ort, aber auch die sportlichen Verhältnisse. Normalerweise gibt es vor den Spielen ein Testevent, das diesmal fehlt. „Wir kennen die Pisten und Bedingungen nicht“, sagt Forster, die sich daher mit „gemischten Gefühlen“ auf ihre dritten Paralympics vorbereitet:
„Wird das Sportliche im Vordergrund stehen oder die Corona-Regeln? Wir wissen nicht, was uns dort erwartet.“
In der von der Außenwelt abgeschotteten Corona-Bubble Pekings könnte ein Stück weit das in Gefahr geraten, was Forster überhaupt mit dem Skifahren verbindet: die Freiheit. Im Alltag ist die Psychologie-Studentin auf den Rollstuhl angewiesen, der Monoski hingegen gibt ihr ein anderes Gefühl. „Im Schnee komme ich überall hin und kann die Pisten runterfahren wie jeder andere auch. Durch das Skifahren habe ich mich erst zu einer selbständigen Person entwickelt“, sagt Forster. Ähnliches fühlt Noemi Ristau, die mit ihren zwei Prozent Sehkraft nur dank den über Headset übermittelten Kommandos eines vorausfahrenden Guides sicher den Hang hinunterfahren kann. „Dass ich selbst steuere und nicht an ein Tandem gebunden bin, macht Skifahren für mich zur schönsten Sportart überhaupt“, sagt die 30-Jährige. Diese Einstellung imponiert auch ihrer Guidin – und inzwischen Freundin – Paula Brenzel.
„Noemi inspiriert mich mit ihrer Person und ihrem Kampfgeist, immer weiterzumachen. Wenn ich sehe, sie kann das gleiche schaffen wie jemand, der voll sieht, ist das sehr beeindruckend.“
Die 22-Jährige ist die einzige der fünf Para-Ski-alpin-Damen ohne Handicap, was sie nicht weniger zum Teil der Mannschaft macht als alle anderen. Brenzel selbst sagt, natürlich sehe sie sich als paralympische Skisportlerin. Von der Sporthilfe wird sie gefördert wie die anderen Medaillenkandidatinnen auch: Im Paralympicskader und als Studentin mit dem Deutsche Bank Sport-Stipendium. Damit steht die Hessin auch ein Stück weit für den Inklusionscharakter, den die Sportart Ski alpin besitzt. Sie stellt auf Schnee einigermaßen vergleichbare Bedingungen her: Zwischen Menschen mit und ohne Handicap, aber auch unter paralympischen Athlet:innen – die zwar in unterschiedlichen Klassen starten, sonst aber alle das Gleiche wollen: Möglichst schnell den Berg hinunterkommen.
(Veröffentlicht am 13.01.2022)