Mit 47 Jahren eilt Ausnahmesportlerin Andrea Eskau weiter von Erfolg zu Erfolg – und das in drei paralympischen Disziplinen im Sommer wie im Winter. Doch es sind nicht die Medaillen, die sie immer wieder auf Neue antreiben.
"Frag mich mal, wo auch nur eine Medaille ist: Ich könnte es dir nicht sagen." Wer bei Andrea Eskau, ihren zwei Hunden und vier Katzen klingelt, um nur mal einen kurzen Blick auf die beindruckende Medaillensammlung zu erhaschen, wird enttäuscht. Die 47-jährige Ausnahmesportlerin versichert glaubhaft, sie könne mit den Zeugnissen von über einer Dekade Leistungssport, von acht Paralympics-Siegen und über 20 WM-Titeln nichts anfangen. "Das Edelmetall hat für mich überhaupt keine Bedeutung", sagt Eskau. "Aber was mich interessiert, ist der Weg dahin: was kann ich machen, um Dinge noch einmal zu verbessern.
Der Weg von Andrea Eskau ist der einer Sportlerin, die viele Hindernisse überwunden hat, um erst sich selbst und anschließend die Konkurrenz zu besiegen. Seit einem Fahrradsturz vor 20 Jahren ist sie querschnittsgelähmt. Damals ein extremer Einschnitt für die Psychologie-Studentin. Vom einen auf den anderen Moment war alles anders. Aus der risikofreudigen Hobby-Triathletin, die als Kind einfach mal so eine Skisprungschanze runtersauste, weil sie ihrem Idol Jens Weißflog nacheifern wollte, wurde eine ängstliche junge Frau, die sich alleine nicht zum Geldautomaten traute.
Seitdem ist viel passiert. Eskau hat ihr Psychologie-Studium erfolgreich mit dem Diplom beendet, arbeitet seitdem in Vollzeit beim Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Bonn. Und aus der ehemaligen Hobby- ist inzwischen eine erfolgreiche Leistungssportlerin geworden.
Um ihrem ersten Begleithund Auslauf zu verschaffen, stieg sie auf das Handbike – es war Liebe auf den ersten Blick. 2002 gab sie ihr Wettkampfdebüt, 2006 holte sie ihren ersten WM-Titel, 2008 in Peking das erste paralympische Gold. Und weil Andrea Eskau "positiv bekloppt" ist, wie sie selbst sagt, tritt sie seit 2010 im Winter zudem im Skilanglauf und Biathlon an. Inzwischen lehrt sie die Gegnerinnen auch am Schießstand und in der Loipe das Fürchten.
Sicher ist es eine Besonderheit, dass ich in verschiedenen Sportarten in der Weltspitze angekommen bin. Ich bin eine Sportverrückte, die sich jeden Tag im Training quält.
Jüngstes Beispiel: Die Winter-Paralympics in Pyeongchang. Kurz vor ihrem 47. Geburtstag trug Eskau erst bei der Eröffnungsfeier die deutsche Fahne ins Stadion und löste dann ein Dauerticket für die Medal Plaza. Bei sieben Starts in neun Tagen gewann sie zweimal Gold, dreimal Silber und einmal Bronze. Damit schraubte sie ihr bei Paralympics-Medaillenkonto auf 15, die Podiumsplätze bei WMs und Weltcups zählt sie nicht mehr mit. Die Liste ist so lang, dass ihr Porträt im vom Deutschen Behindertensportverband herausgegebenen Mediaguide drei Seiten in Anspruch nimmt.
Dabei ist Eskau, kurze graue Haare, Piercing im rechten Ohr, Apple-Watch am Handgelenk, viel lockerer geworden – sagt sie selbst. Die ganz straffen Trainingsumfänge zieht sie nicht mehr durch, steigt aber immer noch jeden Nachmittag nach der Arbeit für eine Einheit auf ihr Trainingsgerät. Inzwischen weiß sie genau, was sie wann braucht, um auf den Punkt fit zu sein.
Auch ihre eigenen Ansprüche hat sie etwas heruntergeschraubt. Anders als vor vier Jahren in Sotschi, wo sie als vermeintlich unbesiegbare Topfavoritin angereist war und dann mit "nur" zwei Goldmedaillen enttäuscht heimfuhr. Genau umgekehrt lief es in Pyeongchang. Jede Medaille kam überraschend, bei den letzten Rennen ging sie erkältet an den Start. Vernünftig sei das nicht gewesen. "Aber ich wusste: Diese Zeit kommt nie wieder."
Um die Tage von Pyeongchang zu verarbeiten, nahm sie sich zwei Wochen Zeit, bevor sie den Blick wieder auf die Handbike-Saison richtete. Ganz still halten konnte sie die Hände aber auch dieses Jahr nicht. Wenn sie nicht trainieren kann, und sei es im heimischen Keller oder mit ihren Hunden, fällt ihr das schwer – noch schwerer werde es aber für ihre Umwelt. "Unerträglich" könne sie bisweilen werden, droht Eskau und lacht dabei.
* 31. März 1971 in Apolda (Thüringen)
Sporthilfe-gefördert seit 2007
Größte Erfolge: 8 Paralympics-Siege (je 4 Sommer/Winter), 23 WM-Titel
Deswegen überrascht es auch nicht wirklich, dass sie aus dem "aktiven Erholungsurlaub auf Mallorca" letztlich wenig Erholung mit zurück brachte. Was sicherlich auch mit dem neuen Interesse an ihrer Person zu tun hatte. "Die öffentliche Aufmerksamkeit hat definitiv eine neue Dimension erreicht", berichtet Eskau. Noch nie erreichten die Diplom-Psychologin so viele Medienanfragen, beim Flug nach Palma de Mallorca stand die gesamte Crew Spalier, im Hotel fragten Touristen nach Autogrammkarten. Man ahnt: Zu ihrem Glück bräuchte sie die große Öffentlichkeit gewiss nicht.
Wichtiger ist ihr da das Feedback der Kollegen. Im März wählten die rund 4000 von der Deutschen Sporthilfe geförderten Athleten Eskau zur Sportlerin des Monats. Sie sieht das als Beweis dafür, dass die Leistungen der "Paras" stärker wahrgenommen und respektiert werden. Eskau wird seit 2007 von der Sporthilfe gefördert. Vor allem in den schwierigen Anfangsjahren sei die finanzielle und ideelle Hilfe existenziell gewesen.
Heute muss sich Eskau darüber keine Sorgen mehr machen. Aktuell tüftelt sie mit ihrem Sponsor an einem neuen Hightech-Handbike. Mindestens bis zu den Paralympics 2020 in Tokio will Eskau noch weitermachen, dann ist sie 49 Jahre alt. Und sogar eine Teilnahme an den Winter-Paralympics 2022 in Peking schließt sie nicht aus – vorausgesetzt, die Leistung stimmt. "Wenn ich aber merke, es geht nicht mehr, dann bin ich raus und warte nicht, bis mir jemand in den Hintern tritt", verspricht die Athletin. Ob bis dahin noch die eine oder andere Medaille herausspringt, ist nicht wichtig – sie läge versteckt in einer Schublade.
(veröffentlicht am 21. Juni 2018)