Thomas Röhler und Johannes Vetter haben das deutsche Speerwerfen 2017 auf ein neues Level katapultiert. Der Olympiasieger und der Weltmeister treiben sich gegenseitig zu Höchstleistungen – und sind damit trotz einiger Unterschiede ein starkes Team.
Auf Johannes Vetters großer Jubelrunde durch das Londoner Leichtathletik-Stadion gehörte Thomas Röhler zu den ersten Gratulanten. Obwohl der Olympiasieger selbst nur um sechs Zentimeter an einer erhofften WM-Medaille vorbeigeschrammt war, freute er sich ehrlich für den frischgebackenen Weltmeister. „Johannes hat es sich verdient“, sagte Röhler, während bei seinem team-internen Rivalen noch die Freudentränen trockneten. „Er hat eine super Leistung gezeigt. Das muss man neidlos anerkennen.“
Der gegenseitige Respekt unter Deutschlands Speerwurf-Aushängeschildern ist seit jeher gewaltig. Röhler und Vetter kennen sich seit vielen Jahren, sind bei aller sportlichen Rivalität gut befreundet. „Ich hätte mich sehr gefreut, bei der Siegerehrung neben ihm auf dem Podest zu stehen“, meinte Vetter, der in England für den Höhepunkt einer aus Sicht der deutschen Männer überragenden Speerwerf-Saison sorgte. Einer Saison, in der sich die beiden Athleten gegenseitig in neue Sphären getrieben haben.
Denn dass in London am Ende ein deutscher Speerwerfer ganz oben auf dem Treppchen stand, kam wahrlich nicht überraschend. Gleich im ersten Wettkampf des Jahres Anfang Mai in Doha hatte Röhler den deutschen Rekord von Raymond Hecht (92,60) aus dem Jahr 1995 auf 93,90 m verbessert. Vetter legte zwei Monate später in einem denkwürdigen Wettkampf in Luzern mit 94,44 m nach und katapultierte sich mit der Goldmedaille von London in die Mercedes-Benz Elite-Förderung.
Dabei haben Vetter (24) und Röhler (25) das vermeintlich beste Speerwurf-Alter Ende 20 noch nicht einmal erreicht. Dass ihr eindrucksvoller Schlagabtausch sie in Zukunft noch zu weiteren Höchstleistungen treiben wird, ist deshalb zumindest vorstellbar. Selbst der Weltrekord des großen Tschechen Jan Zelezny von 98,48 m oder die „magische“ 100-m-Marke scheinen nicht mehr außer Reichweite.
Der Konkurrenzkampf hilft einem, immer verrücktere Weiten zu erzielen. Das klappt nur zu zweit.
„Den Weg bis zu den 90 Metern hätte vielleicht auch jeder einzeln geschafft. Der Weg darüber hinaus ist auch ein Resultat unseres Wettstreits“, berichtet Röhler von der besonderen Situation im deutschen Team. Ein Effekt, den auch Vetter spürt, wobei ihm die Nationalität seiner Kontrahenten im Prinzip egal ist: „Wir haben alle den Anspruch, der Beste zu sein. Egal, ob ein Finne, ein Tscheche oder ein Deutscher weiter geworfen hat als man selbst.“
Schließlich ist Speerwerfen unterm Strich noch immer eine sehr individualistische Sportart. Jeder Athlet muss seinen eigenen Weg finden, Geschwindigkeit, Kraft und Präzision durch das richtige Mischungsverhältnis in den perfekten Wurf umzuwandeln. Das Ergebnis ist eine immense Vielfalt an Wurfstilen innerhalb der Weltspitze.
Auch Vetter und Röhler unterscheiden sich in diesem Punkt geradezu offensichtlich. Extrem vereinfacht gesagt, ist es das Duell zwischen Kraft und Technik. Vetter hat einen Arm wie Obelix und beschleunigt den Speer vor allem aus dem Oberkörper heraus. Der im Vergleich zum Modellathleten aus Offenburg beinahe schmächtig wirkende Röhler ist dagegen eher der Asterix unter den Speerwurf-Kolossen. Mit Cleverness gleicht der zuletzt in die IAAF-Athletenvertretung gewählte Jenaer vermeintliche körperliche Nachteile aus. Er wählt eine flachere Flugkurve als Vetter, wirft härtere Speere und schafft es wie kein anderer, sein Tempo aus dem Anlauf durch eine blitzsaubere Technik in Weite umzumünzen.
*30.09.1991 in Jena
Größte Erfolge
Olympiasieger 2016
5-facher Deutscher Meister
Gefördert seit 01.11.2010
*26. März 1993 in Dresden
Größte Erfolge
Weltmeister 2017
Team-Europameister 2015
Gefördert seit 01.11.2011
Etwas voneinander abschauen können sich die beiden deutschen Top-Athleten deshalb auch nur bedingt. Zwar schielt Röhler durchaus ein wenig neidisch auf Vetters „Länge aus dem Oberarm heraus“, während dieser wiederum „das starke linke Stemmbein“ seines Teamkollegen bewundert. Übertragen lassen sich diese Dinge aber kaum.
Das, was Thomas macht, könnte bei mir komplett in die Hose gehen.
„Ohne gute Technik hätte ich keine 94 Meter geworfen. Ich bin filigraner geworden. In diesem Punkt nähere ich mich Thomas an“, weiß Vetter, dessen Leistungssprung in diesem Jahr aber dennoch von einer Weiterentwicklung seines kraftorientierten Wurfansatzes zeugt.
Die individualistische Ausrichtung setzt sich derweil im Training fort. Während Röhler mit Heimtrainer Harro Schwuchow in seiner Heimatstadt Jena an immer neuen Trainingsmethoden tüftelt, trainiert der gebürtige Dresdener Vetter inzwischen bei Bundestrainer Boris Obergföll im badischen Offenburg. In drei Jahren hat er dort seine Bestleistung um unglaubliche 15 Meter gesteigert. Drei- bis viermal im Jahr kommt das gesamte Team am Institut für Biomechanik in Leipzig zusammen. Dazu gibt es zwei mehrwöchige gemeinsame Trainingslager. „Wir tauschen uns aus, es gibt regelmäßige Workshops für die Heimtrainer“, erklärt Vetter. „Trotzdem“, ergänzt Röhler, „ist nicht jeder Trainingsansatz gut für jeden.“
Röhler ist bereits seit mehreren Jahren für seine besonders innovative Trainingsgestaltung bekannt. Am populärsten ist die Geschichte vom Streichholz-Weitwurf, bei dem er es auf eine beeindruckende Bestmarke von 32 m bringt. Allerdings ist diese Maßnahme wohl eher eine nette Spielerei, die gelegentliche Abwechslung bietet und das hochkomplizierte Speerwerfen für die Öffentlichkeit greifbarer macht. Wichtiger sind da schon Balance-Einheiten auf der Slackline oder das Barrenturnen, das wiederum auch bei Vetter seit vielen Jahren zum Standardprogramm gehört.
Die Ausrichtung der Trainingsinhalte ist auch ein Resultat der unterschiedlichen sportlichen Hintergründe der beiden Top-Sportler. Während Vetters Talent fürs Werfen unverkennbar war und er sich dementsprechend früh spezialisierte, war Röhler lange Zeit Dreispringer. „Wenn man mit 13 nicht schon Bartwuchs hatte, war man als Speerwerfer nicht viel wert“, erinnert sich der Thüringer an seine durchaus schwierige Zeit auf dem Sportgymnasium in Jena. „Ich habe immer nur um die Normen gekämpft, um auf der Schule bleiben zu dürfen.“ Heute profitiert der WM-Vierte von London von seinem „fachfremden“ Hintergrund: „Die Fähigkeiten aus dem Dreisprung kann ich eins zu eins übertragen. Das hat viel mit Risikobereitschaft und Koordination zu tun.“
Den eigenen Horizont erweitern und daraus Kraft und Inspiration für den Sport ziehen kann Röhler zudem auch mit seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften. Den Bachelor hat er bereits in der Tasche, ist nun bereits im Masterstudiengang eingeschrieben und kann dabei weiterhin auf das Deutsche Bank Sport-Stipendium setzen. Ein Weg, mit dem auch Vetter, aktuell Mitglied der Sportfördergruppe der Bundeswehr, inzwischen liebäugelt. „Ich hatte zuletzt noch etwas zu viel zu tun, aber in der kommenden Zeit ist mein Ziel, ein Studium anzufangen“, sagt er. Gesundheitsmanagement sei beispielsweise ein interessantes Feld.
Trotz einiger Unterschiede sind sich Vetter und Röhler unterm Strich nicht unähnlich. Zu spüren ist dies beispielsweise auch, wenn die beiden im Rahmen der Saison gemeinsam auf Reisen sind. Man teilt sich ein Zimmer, hat gemeinsame Routinen wie das Kaffeetrinken vor dem Wettbewerb und lässt dem jeweils anderen doch genügend Freiraum für die individuelle Tagesgestaltung. „Vor allem am Wettkampftag hat jeder seinen eigenen Ablaufplan“, erzählt Vetter.
Im Wettkampf selbst zeigen sich dann wiederum die verschiedenen Charakterzüge der beiden Athleten. „Ich bin eher der Hau-drauf-Typ“, sagt Vetter, der sich wie kein Zweiter emotionalisieren und diese Emotionen kanalisieren kann. Im besten Fall kommen dabei Wettkämpfe wie der in Luzern heraus, in dem er neben seinem deutschen Rekord noch drei weitere Male über die 90-Marke warf. Gleichzeitig bewundert Vetter die „angenehme Ruhe“, die Röhler bei Wettkämpfen ausstrahlt. „Ich habe jetzt auch gelernt, die Wettkämpfe ruhiger anzugehen und die Bombe dann platzen zu lassen“, sagt er.
Ob mit Gelassenheit oder Emotionalität: Die Erfolge geben beiden Sportlern recht. Die beiden bedeutendsten Titel teilen sich Weltmeister und Olympiasieger nun, doch das nächste Highlight naht bereits. Die Europameisterschaft 2018 in Berlin ist sportlich kaum weniger hoch einzuschätzen. Gelingt es Röhler und Vetter, die Form der Ausnahmesaison 2017 auch im nächsten Jahr wieder aufzubauen, sind sie auch beider Heim-EM die großen Favoriten.
Ein internationaler Titel im eigenen Land wäre schließlich auch für die schon jetzt hochdekorierten Speerwerfer etwas Besonderes. Auch wenn sie sich selbst mit Kampfansagen derzeit noch zurückhalten. „Wir haben ein großes gemeinsames Ziel: Weit zu werfen!“, sagt Röhler, und Vetter betont: „Was mich motiviert, ist, schöne Wettkämpfe zu bestreiten. Mit der Aufgabe, Medaillen zu holen, setze ich mich nur unter Druck.“
(Veröffentlicht am 11. Dezember 2017)