Ingrid Klimke ist eine Ikone des Reitsports und Liebling der Fans. Aber sie macht und ist auch noch viel mehr – ein Besuch beim Training der vielbeschäftigten Doppel-Olympiasiegerin.
"Versteht eigentlich jeder Deutsch?“, ruft Ingrid Klimke in die Runde, und alle Stallbesucher nicken. Die zweimalige Olympiasiegerin im Vielseitigkeitsreiten schaut zufrieden, diesmal will sie auf Nummer sicher gehen. Kürzlich seien Fans aus Ungarn da gewesen und hätten dafür über 1.000 Kilometer Anfahrt in Kauf genommen, erzählt sie. Sie hätten freundlich gelächelt, als Klimke ihren Turnierstall zeigte, die Pferde präsentierte und von ihren Erfahrungen berichtete. Am Ende stellte sich heraus: Kapiert hatten die netten Ungarn kein einziges Wort.
Will man den Hype um die Person Ingrid Klimke erleben, muss man nicht zwingend der deutschen Sprache mächtig sein, sondern nur eines ihrer offenen Trainings in Münster besuchen. Wobei, „nur“ hier leicht gesagt ist: Sobald ein neuer Termin bekannt wird, ist er sofort ausgebucht. Etwa einmal im Monat öffnen die Stalltüren für ein paar Stunden, diesmal für 48 Besucher, angereist aus allen Teilen der Republik und sogar aus Norwegen und Polen. Sie hängen an Klimkes Lippen, saugen jede Info begierig auf und bewundern sie im gewöhnlichen Umgang mit den Pferden. Die 51-Jährige erstaunt das immer wieder: „Das offene Training läuft wie geschnitten Brot. Die Leute scheinen das tatsächlich gut zu finden.“
Dass sie dabei etwas verblüfft klingt, sagt viel aus über die zweifache Mutter, die in ihrer Geburtsstadt Münster ein bodenständiges Familienleben lebt. Von ihren Fans, meist weiblich und in der Regel selbst Reiterinnen, wird Klimke hingegen vergöttert wie sonst nur Social-Media-Stars. Bei Facebook, Instagram und Twitter folgen ihr zusammengerechnet fast 400.000 Menschen. Mit ihrer Helmkamera aufgezeichnete Videos erzielen bei Youtube regelmäßig bis zu eine halbe Million Views. Ingrid Klimke, eine Influencerin? Sie winkt ab. Sie versuche lediglich zu zeigen, dass sie auf dem Hof „ganz normal“ mit den Pferden umgehe. Ihr Slogan lautet „Reite zu deiner Freude“, den Spruch predigte schon ihr verstorbener Vater.
Klimke betont:
„Das Pferd ist kein Sportgerät, sondern ein Partner, den man wertschätzen muss. Wir haben eine Verantwortung dem Pferd und unserem Sport gegenüber.“
Es sind Aussagen wie diese, die sie für Hobby-Reiter nahbar, menschlich und authentisch machen. Und Klimke beweist: Selbst einer Weltklasse-Reiterin und erfahrenen Ausbilderin gelingt nicht immer alles. Vor den Augen der Fans hakt es etwas bei der Cavaletti-Arbeit im Dressurviereck. Den Besuchern des offenen Trainings ruft sie dann Sätze zu wie „Dressur kommt von dressieren – das ist keine schwarze Kunst“. Am Wochenende steht ein Turnier an, es ist eines von etwa 50 in ihrem Jahreskalender – rund ein Dutzend Mal tritt sie auch in der Dressur an. Dort reitet Klimke bis zum Grand-Prix-Level, gehört als Mitglied des deutschen Perspektivkaders hier ebenfalls zur nationalen Spitze.
Als Vielseitigkeitsreiterin hat sie ihren Platz in den Geschichtsbüchern ohnehin sicher. In ihrer Bilanz stehen neben den beiden olympischen Gold-Medaillen einmal Olympia-Silber sowie zwei WM- und vier EM-Siege mit der Mannschaft. Im Einzel gewann sie 2017 die EM, bei den Weltreiterspielen 2018 holte Klimke Bronze. Fünfmal nahm sie an Olympischen Spielen teil, 2020 in Tokio würde sie mit ihrem Vater Dr. Reiner Klimke gleichziehen, der bei sechs Spielen antrat und sechsmal Gold holte. Der Dressurreiter verstarb 1999, ein Jahr vor der Olympia-Premiere seiner Tochter. Es sei immer sein Traum gewesen, dass eines seiner drei Kinder olympische Meriten erfahre, sagt Ingrid Klimke. „Ein bisschen war das also meine Mission.“ Und die nächste Generation der Dynastie steht schon bereit: Ingrids Tochter Greta wird im Sommer 17, seit vergangenem Jahr ist sie im Nachwuchskader der Vielseitigkeitsreiter und wird ebenfalls von der Sporthilfe unterstützt - einmalig.
2008, als Reiner Klimke posthum in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ aufgenommen wurde, waren Ingrid und ihre Mutter Ruth Klimke bei der Aufnahmefeier dabei. Ein bewegender Moment für Ingrid, die ihren Vater als Vorbild bezeichnet. Selbst wenn es ihr erst mit 30 Jahren gelang, ihn davon zu überzeugen, dass sie von nun an das Reiten zu ihrem Beruf mache. „Es war ihm wichtig, dass ich etwas Vernünftiges lerne“, sagt Ingrid Klimke. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Bankkauffrau und begann danach ein Lehramtsstudium, das sie vor dem zweiten Staatsexamen abbrach. 1999 wurde sie Pferdewirtschaftsmeisterin. Klimke bildet die Pferde selbst aus und unterhält ein Unternehmen mit sechs Angestellten. Wie ihr Vater veröffentlicht sie Bücher, arbeitet als Dozentin für das Deutsche Institut für Pferdeosteopathie, vertreibt ihre eigene Reitkollektion und hält Vorträge und Seminare. Seit 2018 gibt es sogar das „Ingrid Klimke Magazin“. Zu keiner Sportlerin passt die Bezeichnung „Vielseitigkeits-Reiterin“ besser.
An Sponsoren und Förderern mangelt es ihr nicht, trotzdem ist Klimke dankbar für jede Art von Unterstützung. Vor Tokio 2020 ist sie erstmals Teil des von PwC finanzierten ElitePlus-Programms, der höchsten Förderungsstufe der Deutschen Sporthilfe, von der sie bereits seit 1993 unterstützt wird. Monatlich 1000 Euro zusätzlich macht das neben der Förderung im Top-Team bis zu den Spielen für sie aus. "Es macht mich ein kleines bisschen stolz, zu den Medaillenhoffnungen zu gehören.“ Die „Road to Tokyo“ geht sie mit ihrem Paradepferd SAP Hale Bob an, der 2020 16 Jahre alt sein wird und damit allmählich dem wohlverdienten Karriereende entgegengaloppiert. Eine olympische Einzelmedaille fehlt noch in ihrer Sammlung und ist das Ziel nach EM-Gold 2017 und WM-Bronze 2018 – beides auf dem Oldenburger Wallach, den sie nur „Bobby“ ruft. „Es wäre ein Träumchen“, strahlt Klimke, auch wenn sie dabei noch etwas zurückhaltend klingt.
Leute, die sie kennen, attestieren ihr ein feines Gespür für Stimmungen. Sie bezeichnet sich selbst als „totalen Bauchmenschen“, kann sich gut in andere hineinversetzen – das gilt für Menschen wie Tiere. Und sie weiß auch, wann sie sich Pausen vom Sport nehmen muss. Ein Nordsee-Wochenende im Jahr mit den besten Freundinnen etwa ist ihr heilig. Sie sagt: „Immer nur Pferde, Pferde, Pferde, dann bleibt der Horizont irgendwann stehen. Ich will aktiv am Leben teilnehmen – sonst wäre ich nach 30 Jahren im Leistungssport nicht mehr dabei.“ Zeitmanagement heißt bei einer so vielbeschäftigten Frau das Schlüsselwort. Vier Stunden dauert das offene Training diesmal, etwas länger als gewöhnlich. Trotzdem steht sie noch für Fotos und Autogramme parat. Dann muss sie aber los, ihre neunjährige Tochter Philippa wartet auf Mamas Hilfe bei den Mathe-Hausaufgaben. Auch das ist Ingrid Klimke, und das ist ihr noch etwas wichtiger als die Reiterei.
(Veröffentlicht am 31.07.2019)