Stefan Wiesner hat 17 WM-Titel gewonnen und gehört damit zu den Weltbesten seines Sports, außerhalb seiner eigenen Disziplin kennen ihn jedoch nur wenige. Denn kaum jemand hat seine Sportart auf dem Schirm.
Er springt und springt und springt. Wenn Hauptfeldwebel Stefan Wiesner abends von der Arbeit nach Hause kommt – oder wie er es nennt: vom Training –, dann ist er zuvor acht bis zehnmal in ein Flugzeug gestiegen, aus über 1.000 Meter Höhe abgesprungen und ein paar Sekunden später wieder auf dem Boden angekommen. Seit fast zwei Jahrzehnten ist der 37-jährige Berufssoldat Mitglied der Fallschirmsprung-Sportfördergruppe und gehört in seiner Disziplin zu den Weltbesten: Insgesamt 17 WM-Titel hat er bislang gewonnen, 3 davon in diesem Jahr bei den Titelkämpfen im chinesischen Wuhan. Dazu kommen Silber und Gold bei den World Games 2005 und 2009. Und trotzdem ist er selbst in der Sportwelt genauso wie seine Sportart weitgehend unbekannt. Dabei sind zumindest in seiner Wahlheimat Oberbayern die Chancen gut, Wiesner einmal live am Himmel zu erleben. Über alle Sprünge führt der gebürtige Sachse akribisch Logbuch: Er steht inzwischen bei fast 14.000, hat etwa eine Woche (!) Lebenszeit im freien Fall verbracht. Das erste Mal aus einem Flugzeug sprang er im Alter von 15 Jahren, damals mit einer Ausnahmegenehmigung – normalerweise liegt das Mindestalter bei 16. Wiesner sagt von sich, er habe „gute Voraussetzungen gehabt“, um in den Sport zu starten.
Bei einem Großvater, der das Fallschirmspringen zu DDR-Zeiten als einer der Ersten überhaupt leistungsmäßig betrieb, einem Vater, der selbst sechsmal Weltmeister war, und einer Mutter, die jahrelang als Bundestrainerin arbeitete, ist das natürlich leicht untertrieben. Der ganz große Adrenalinkick bleibt bei rund 800 Sprüngen im Jahr zwar aus, Wiesner ist aber nach wie vor fasziniert von der Vielfältigkeit seiner Sportart. Seine Paradedisziplin ist das Zielspringen, bei dem die Athleten aus 1.000 Meter Höhe abspringen und durch Steuern des Schirmes versuchen, mit der Ferse einen Punkt von zwei Zentimeter Durchmesser zu treffen. Außerdem tritt er im Figurenspringen an, bei dem innerhalb weniger Sekunden eine feste Abfolge an Stilelementen durchgeführt und bewertet wird, sowie ab und zu im Formationsspringen, einer Art Synchronschwimmen in der Luft. In seiner Freizeit probiert sich Wiesner zudem in „fremden“ Disziplinen wie Wingsuit oder Canopy Piloting aus. Seine Trainingslager finanziert er vor allem über die Unterstützung der Sporthilfe, von der er mit Unterbrechungen seit 2003 gefördert wird. Neben dem finanziellen Zubrot sieht er die Förderung als „Anerkennung und Ansporn“. In diesem Jahr nahm er auf Einladung der Sporthilfe etwa am Ball des Sports in Wiesbaden teil, „eine tolle Sache“, sagt er.
Von einer Teilnahme an Olympischen Spielen ist Wiesner hingegen weit entfernt. Selbst bei den World Games ist mittlerweile nur noch das spektakuläre Canopy Piloting, vertikales Fliegen über Wasseroberflächen, im Programm. Für die Spiele 2024 in Paris bewarb sich der internationale Fallschirmsportverband FAI mit Indoor Skydiving, bei dem die Athleten in einem vertikalen Windkanal Figuren absolvieren, als temporär olympische Sportart – vergebens. Zumindest ehrenhalber steht Wiesner aber bereits auf der Stufe eines olympischen Medaillengewinners, 2017 erhielt er vom Bundespräsidenten das Silberne Lorbeerblatt. Er weiß: „Olympia ist schon verdammt weit weg, aber mal schauen, in welche Richtung es noch geht.“ Zumindest familiär ist der Weg bereits klar: Wiesners Sohn ist 14, wenn er möchte, darf er bald seinen ersten Sprung machen und die Fallschirm-Dynastie in vierter Generation fortsetzen. Nur der Ort seines ersten Sprungs wäre nicht verhandelbar: Derselbe Flugplatz bei Cottbus soll es sein, auf dem bislang alle springenden Wiesners ihre erfolgreichen Karrieren begonnen haben.
(Veröffentlicht am 22.11.2019)