Die goldenen Jahre des deutschen Langlaufs sind vorbei – dachte man. Nach Olympia-Gold und -Silber 2022 und zwei WM-Medaillen 2023 ist klar: Deutschland ist zurück in der Skilanglauf-Weltspitze. Eine unerwartete Wiederauferstehung, Zufall oder Erfolg nach Plan?
olympische und 22 WM-Medaillen gewannen deutsche Langläufer:innen seit 2000
Jahre musste das Männerteam auf eine Medaille bei einem Großereignis warten
Stationen mit insgesamt 60 Wettkampf-Entscheidungen umfasst der Weltcupkalender
Skilangläufer:innen werden aktuell von der Sporthilfe gefördert
Der Morgen hatte bereits gut begonnen: Bundestrainer Peter Schlickenrieder bekam von Team-Assistentin Wencke Hölig eine im Überraschungsei gefundene Rakete geschenkt – ein gutes Omen. Die Favoriten für das 4 x 10-km-Staffelrennen der Männer waren zwar andere, doch davon ließ sich das deutsche Team wenig beeindrucken. Stattdessen zündeten an diesem Tag bei der Weltmeisterschaft 2023 in Planica Albert Kuchler, Janosch Brugger, Jonas Dobler und Friedrich Moch in der Loipe die symbolische Rakete und liefen in einem hochspannenden Rennen sensationell zu Bronze! „Ein kleines Langlauf-Wunder“ titelte die sportschau, denn eine Medaille bei einem Großereignis hatte es für die Männer zuletzt bei der WM 2011 gegeben. In Planica hatte tags zuvor die Frauenstaffel bereits mit der Silbermedaille vorgelegt.
„Die Herrenmedaille war fast die wichtigere“, sagt Schlickenrieder, „sie hat gezeigt, was möglich ist und extrem für die jetzt anstehende Saison motiviert. Die Mädels haben es ja bereits bei Olympia unter Beweis gestellt.“ Bei den Spielen in Peking hatten Katharina Hennig und Victoria Carl im Team-Sprint spektakulär Gold gewonnen. Zudem Silber in der Staffel gemeinsam mit Katherine Sauerbrey und Sofie Krehl – und damit in einer anderen Zusammensetzung als bei der WM 2023, wo Pia Fink und Laura Gimmler neben Hennig und Carl im Aufgebot standen, was das neue Niveau in der Damenmannschaft zeigt.
„Wir haben in dieser Weltspitzen-Mannschaft eine schöne Breite und werden die nächsten Jahre richtig Freude haben, denn so etwas hat der deutsche Langlauf noch nie gesehen!“,
schwärmt Schlickenrieder von dem Team mit neun Athletinnen, das „eine Gaudi miteinander hat, aber in dem auch eine interne Konkurrenz herrscht und von denen jede in jedem Training um Staffel- und Team-Event-Plätze kämpft.“
Deutschland ist zurück in der Weltspitze, aber eins ist auch klar: Die dominierende Nation im Langlauf ist Norwegen, und das schon immer. Die meisten Weltcupsiege, die meisten Olympiamedaillen. Deutschland liegt im ewigen Nationenranking auf Platz sechs. Anfang der 2000er Jahre gab es fast immer etwas zu feiern. Athlet:innen wie Tobias Angerer, Jens Filbrich, Andreas Schlütter, René Sommerfeldt, Axel Teichmann und Claudia Nystad schafften es regelmäßig aufs Podium. Bei den Olympischen Winterspielen von Vancouver 2010 gab es fünf Medaillen für die deutschen Langläufer:innen. Danach folgte eine Durststrecke. In Sotchi 2014 gab es noch einmal Bronze, 2018 in Pjöngchang ging Deutschland leer aus und auch bei Weltmeisterschaften gab es nach 2011 keine deutsche Medaille mehr. Bis 2023. Pia Fink, Mitglied der Silberstaffel von Planica, erklärt im Sporthilfe-Podcast: „Vor ein paar Jahren haben einige ältere erfolgreiche Athleten gleichzeitig aufgehört.“
Die nachrückenden Athletinnen hätten dann erstmal Zeit gebraucht, sich an das Spitzenniveau zu gewöhnen. Aber entscheidend sei das neue Trainerteam, „das hat uns weitergebracht. Neue Trainer haben neue Ideen, das war eine riesige Motivation.“
Chef dieses neuen Teams ist Peter Schlickenrieder, der 2018 übernahm – und sich eben nicht als Chef sieht, der alles vorgibt, sondern in besonderem Maße auf das Team als Basis für allen Erfolg setzt: „Wir haben 2018 einen Prozess angestoßen, bei dem es darum geht, aus dem Abteilungsdenken rauszukommen und stattdessen ein Team aufzubauen, in dem jeder versucht, jeden besser zu machen – vom Physiotherapeuten über das Wachs-Team, die Trainer, Wissenschaftler, Psychologen, Ernährungsberater bis hin zu den Eltern.“ Das funktioniere aber nur mit einem hohen Maß an Vertrauen untereinander.
„Wenn Vertrauen fehlt, kannst du die besten Fachleute haben, sie werden aber nicht zum Performen kommen.“
Neue Leute mit neuem Input änderten auch das Training, erklärt Silbermedaillengewinner Janosch Brugger: „Früher haben wir viel Schwellentraining gemacht, heute trainieren wir insgesamt ruhiger, aber die intensiven Einheiten sind dafür auch richtig hart. Wir nennen das polarisiert.“ Außerdem machen nicht alle Athlet:innen immer dieselben Einheiten. „Wir haben für jeden ein metabolisches Profil erstellt, damit wir das Training individuell anpassen können,“ so der Bundestrainer.
Der Effekt der Trainingsumstellung hat sich spätestens bei der WM in Planica gezeigt, bei der die drei „Jungen“ Albert Kuchler (Jahrgang 1998), Janosch Brugger (1997) und Friedrich Moch (2000) neben und angeführt von Jonas Dobler (1991) performten. Moch machte mit 22 Jahren als Jüngster im Team die Medaille als Schlussläufer klar und sorgte bei seinen Teamkollegen für Freudentränen. „Die Jüngeren bringen was mit. Gerade der ‚Frie‘ läuft brutal schnell“, sagt Dobler. Zwar gehe jeder im Wettkampf für sich auf die Loipe, aber auch im Langlauf sei der Teamgeist ein entscheidender Faktor.
„Ein gutes Team ist die Basis, um überhaupt etwas zu gewinnen. Es ist das zusätzliche Prozent“,
hat Routinier Dobler das Credo des Bundestrainers verinnerlicht. Dieses Prozent kann am Ende den Unterschied ausmachen, gerade weil die Weltspitze so eng zusammen ist. „Rechnet man unsere Einzel-Leistungen zusammen, waren wir auch früher schon im Medaillen-Bereich. Es sind Nuancen, es muss alles passen.“
Und wenn alles passt, könne auch Norwegen geschlagen werden, so Schlickenrieder nach der WM. Als Zeithorizont nahm er sich dafür allerdings zehn Jahre vor. Dass es lange bis zu einer Ablöse an der Weltspitze dauern wird, glaubt auch Jonas Dobler, der nach der WM seine Karriere beendete. „Meiner Meinung nach steht das in den nächsten vier Jahren nicht an. Aber man kann auch vieles gewinnen, ohne die Norweger zu schlagen.“ Nicht nur läuferisch müsse man angreifen, ist Janosch Brugger überzeugt: „Die Ski, die Bedingungen – Langlauf ist eine komplexe Sportart. Wir haben ja auch noch ein Technikteam hinten dran. Das sind bei uns sechs bis acht Leute.“ Norwegen reise jedoch mit 18 an, „und dahinter haben sie ein ganzes Forschungsteam.“
Der Stellenwert des Ausdauersports in der Outdoor-Nation ist enorm. Auch im Triathlon und in der Leichtathletik gewinnen mittlerweile immer mehr Norweger:innen. „Dieses Land ist unvorstellbar aktiv, tausende Kinder machen Langlauf“, berichtet Albert Kuchler von seinem Trainingserfahrungen im norwegischen Wintersportzentrum Sjusjøen. Top Bedingungen mit einem riesigen Loipen-Netz, von denen man hierzulande nur träumen könne. Auch aus Sicht von Teamkollege Brugger sei das der entscheidende Vorteil Norwegens: „Wir haben viel weniger Masse in Deutschland. Die zweite Reihe in Norwegen ist auch auf Top-Ten-Niveau.“ In Deutschland konzentriert sich der Skilanglauf auf die vier Stützpunkte in Oberstdorf, Oberhof, Oberwiesenthal und Ruhpolding. Dort arbeitet man an der seit 2018 angestoßenen Entwicklung, dazu gehöre auch eine offene Feedbackkultur: „Die Trainer kommunizieren viel miteinander und ergänzen sich“, lobt Kuchler und betont:
„Für uns ist es normal, Dinge anzusprechen, die uns nicht passen. Auch Richtung Trainer. Und da wird dann nicht abgeblockt, sondern geredet. Wir sind alle auf Augenhöhe.“
So gerüstet ist das Team um Peter Schlickenrieder voller Motivation in die Saison 2023/2024 gestartet – einer Saison, die von Ende November bis Ende März läuft und ohne Großereignis daherkommt. Für Aushängeschild Katharina Hennig kein Motivationsdämpfer, sie hat den Sommer genutzt, mit hohen Umfängen an den Grundlagen zu arbeiten – eine langfristig angelegte Planung in Hinblick auf die WM 2025. Dabei motivieren die zurückliegenden Erfolge:
„Dass wir Olympiasiegerinnen werden, hätte ich im Leben nicht für möglich gehalten“,
bei ihr spürt man auch fast zwei Jahre nach dem Coup die großen Emotionen, wenn sie davon erzählt. „Es hat gezeigt, dass mit Training, Wille und der richtigen Form Medaillen erreicht werden können und harte Arbeit belohnt wird.“ Mit jedem Podestplatz komme der „Hunger auf mehr“. Nach dem ersten Weltcupsieg im Einzel in der vergangenen Saison erhofft sich auch der Bundestrainer von ihr, das Podest deutlich häufiger angreifen zu können, um zukünftig auch bei Weltmeisterschaften und Olympia um eine Einzelmedaille mitzukämpfen.
Grundsätzlich seien die Ziele für die gesamte Mannschaft individuelle Verbesserungen, über die Saison mehr Stabilität reinzubringen und damit den nächsten Entwicklungsschritt zu machen. Gleichzeitig soll sich jede:r persönliche Höhepunkte definieren, sei es die Tour de Ski oder der Heimweltcup in Oberhof, wo im Januar seit langem mal wieder ein Skilanglauf-Weltcup stattfinden wird.