Für die deutschen Alpin-Herren hat die Zeitrechnung nach Felix Neureuther begonnen. Die Olympischen Spiele in Peking sind 2022 die ersten ohne die langährige Galionsfigur. Die Hoffnungen ruhen in der Post-Neureuther-Ära nun vor allem auf Einzelkönnern wie Alexander Schmid, Stefan Luitz, Thoms Dreßen und Andreas Sander.
16 erfolgreiche Jahre hat Felix Neureuther im alpinen Weltcup verbracht, im Frühjahr 2019 beendete er seine Karriere. Inzwischen hat der Ski-Star seine Stöcke doppelt gegen das Mikrofon getauscht – als Co-Kommentator und TV-Experte bleibt er dem Weltcup-Zirkus erhalten, als verkappter Schlagersänger stürmte er die Charts und sogar das Münchner Oktoberfest. Ursprünglich war „Weiterziehn“ als Aprilscherz eines Radiosenders geplant, doch der Song wurde zum Hit und spielte Geld für gute Zwecke ein. „Ich muss sagen: Das hat der Felix echt gut gemacht“, lobt Stefan Luitz, Musikliebhaber und Riesenslalomspezialist. „Das Lied war auch bei uns ein Ohrwurm. Weil einfach alles, was der Felix in die Hand nimmt, auch erfolgreich wird.“
Ab sofort muss der Deutsche Skiverband (DSV) nun ohne seinen Goldjungen auskommen. Mit fünf WM-Medaillen, 13 Weltcup-Siegen und insgesamt 47 Podest-Plätzen ist Neureuther – obwohl häufig vom Verletzungspech heimgesucht – einer der erfolgreichsten deutschen Alpin-Skiläufer der Geschichte. Lediglich olympisches Edelmetall sowie ein Einzel-WM-Titel blieben ihm verwehrt. Dafür sammelte der Sohn von Rosi Mittermaier und Christian Neureuther Sympathien weit über die Ski-Szene hinaus, war in den vergangenen Jahren Zugpferd für eine gesamte Sportart und als meinungsstarker Athlet auch Projektionsfläche für Medien und Sponsoren. Für den DSV ist sein Abgang zwar ein „extremer Verlust“, wie Alpin-Chef Wolfgang Maier kurz nach Bekanntwerden von Neureuthers Rücktritt zu Protokoll gab, aber auch kein Weltuntergang. Oder wie es der neue Cheftrainer Christian Schwaiger formuliert:
„Der Skisport in Deutschland muss auch ohne Felix weitergehen.“
Sein Auftrag: Die Speed-Mannschaft nachhaltig entwickeln und die Techniker zurück in die Erfolgsspur führen. Einer wie Neureuther wird dem Verband fehlen, sportlich wie medial. „Zwar fehlt in gewisser Weise ein Schutzschild für die Mannschaft, auf der anderen Seite aber ist jetzt die Chance für neue Gesichter“, glaubt Maier. Neureuther selbst sagt, in seine Fußstapfen müsse niemand treten, seine Nachfolger sollten ihre eigenen Wege gehen.
Dem Allgäuer Luitz ist bewusst: „Klar fällt der Fokus im Riesenslalom jetzt auch etwas mehr auf mich. Das habe ich in den letzten Jahren schon miterleben und mich etwas darauf vorbereiten können.“ Mit seiner Rolle steht der 27-Jährige exemplarisch für die aktuelle Generation der deutschen Alpin-Herren: Die Last soll auf mehrere Schultern verteilt werden. Luitz zur Seite stehen in den Technik-Disziplinen Riesenslalomfahrer Alexander Schmid, 25 Jahre alt, und Slalomspezialist Linus Straßer, 27. Dahinter warten die zuletzt oft verletzungsgeplagten Sebastian Holzmann und David Ketterer (beide 26) auf ihren Durchbruch im Weltcup.
Altmeister Fritz Dopfer, 32 Jahre, vor vier Jahren noch WM-Zweiter im Slalom und immerhin neunmal auf einem Weltcup-Podium, wollte nach einer durchwachsenen letzten Saison zunächst den Umweg über das Europacup-Team nehmen – kompletter Neuaufbau. Dahinter wird die Luft dann scheinbar dünn. Oder wie es Luitz, der diese Saison auch wieder vermehrt im Slalom an den Start gehen will, typisch bayerisch formuliert: „Die Riesen-Mannschaft ist ein bisschen kleiner, mit dem Schmid Alex und mir. Da hofft man natürlich, dass die Talente, die definitiv da sind, dann auch nachkommen.“
Das hofft auch Christian Schwaiger. Top-Athleten stehen dem Chefcoach derzeit vor allem in den Speed-Disziplinen zur Verfügung. Allen voran der dreifache Weltcup-Sieger Thomas Dreßen, mit 26 Jahren noch immer ein junger Abfahrtsläufer, sowie Josef Ferstl, 30 Jahre und im Super-G bislang mit zwei Weltcup-Siegen dekoriert. Hinzu kommt Ex-Juniorenweltmeister Andreas Sander, inzwischen 30 Jahre alt. Sowohl Sander als auch Dreßen, 2018 erster deutscher Sieger auf der legendären „Streif“ in Kitzbühel nach 40 Jahren, verpassten wegen schwerer Kreuzbandverletzungen aber fast die komplette letzte Saison. „Mit ihnen muss man jetzt geduldig sein. Nach einem Comeback sofort wieder ganz vorne mitzufahren, ist nicht selbstverständlich“, betont Schwaiger und will seinen Top-Fahrern keinen Druck auferlegen. Geduld benötigte er mit Thomas Dreßen allerdings kaum. Auf den Tag genau ein Jahr nach seiner schweren Verletzung gewann er bei seinem ersten Start nach der Verletzungspause die Abfahrt von Lake Louise - das perfekte Comeback!
Der Verband will die Chance nutzen, die sich aus der Situation ergibt. Von neuen Spielregeln und neuen Hierarchien ist die Rede. Kontinuität herrscht hingegen im Amt des Alpindirektors, das Wolfgang Maier nun bereits seit 13 Jahren ausübt. Er könne sich gut an Zeiten erinnern, „als bei Siegerehrungen unten schon der Schampus geköpft wurde und unser bester Läufer noch oben im Starthäuschen stand“, sagte er vergangenes Jahr dem „Spiegel“.
Besonders Abfahrer Dreßen traut Maier zu, in regelmäßigen Abständen selbst die Korken knallen zu lassen. Wenn sich Dreßen in der Weltspitze etabliere und mit ums Podium führe, könne er im Herren-Team eine exponierte Rolle einnehmen: „Das liegt vor allem auch an seinem Charakter“, so Maier:
„Bodenständig, geerdet, geradeaus. Und er ist ein blitzgescheiter Typ.“
Die beiden potenziellen „Vorausfahrer“ Dreßen und Luitz treffen während der Weltcup-Saison nur selten aufeinander. In der Regel finden Technik- und Speed-Rennen an verschiedenen Orten statt. Eine der Ausnahmen ist das amerikanische Beaver Creek – für beide Athleten im vergangenen Winter ein neuralgischer Ort. Dreßen flog bei seinem dritten Saisonrennen als Zwischenbester mit über 100 km/h in das Fangnetz, verletzte sich Kreuzband, Innenband und Meniskus. Es folgte eine 216-tägige Verletzungspause. Luitz raste 48 Stunden später die Riesenslalom-Piste ebenfalls als Zeitschnellster runter und feierte seinen ersten Weltcup-Sieg überhaupt. Da er jedoch vor dem Start mit Sauerstoff versorgt wurde und damit gegen die damaligen Antidopingregeln des Weltskiverbandes verstieß (nicht allerdings gegen die der Welt-Anti-Doping-Agentur), musste er lange um den Erfolg bangen – für den Allgäuer die schlimmste Zeit seiner Karriere.
Die Folgen von Beaver Creek, auf die Luitz und Dreßen gut und gerne hätten verzichten können, stehen exemplarisch für das extreme Auf und Ab im alpinen Skisport. Am einen Tag himmelhochjauchzend, wenig später zu Tode betrübt. „Wie schnell das gehen kann, hat man im letzten Jahr gesehen“, erinnert Coach Schwaiger:
„Es ist zwar brutal, aber Risiko und Verletzungen sind leider Teil des Sports.“
Auch Luitz kann davon ein Lied singen, und zwar ein weniger gut gelauntes als der Schlager von Felix Neureuther. Inzwischen habe er „fast jedes Körperteil mal durch“, im vergangenen Winter bremsten ihn eine Schulter- und eine Innenbandverletzung. Er sagt aber auch: „Es gibt so viel Schlimmeres im Leben als einen Kreuzbandriss. Das heilt wieder zusammen und man kommt wieder komplett auf die Beine.“ „Auf die Beine kommen“, das scheint so ein bisschen die Überschrift über die Saison der deutschen Männer zu werden. Stabilität ins Team bringen, die zuletzt Verletzten wieder integrieren, die Nachrücker langfristig entwickeln – das sind die Ziele, die sich Cheftrainer Schwaiger für den Winter 2019/20 gesetzt hat, eine Saison ohne Großereignis. Auf den Prüfstand stellen wird die Aussagen dann sicher auch der Jung-TV-Experte Neureuther, der schon einmal ankündigte, es ginge in seiner neuen Funktion nicht um ihn, sondern um den Sport. Schwaiger ist auf kritische Nachfragen des Ex-Athleten und dessen Journalisten-Kollegen vorbereitet, auch wenn er hofft, dass es nicht allzu viele werden: „Aber das liegt natürlich an uns: Wenn wir Leistungen bringen, erübrigt sich das.“
(Veröffentlicht am 17.12.2019)