Dauerbrenner Ronald Rauhe stand schon mehrmals vor dem Karriereende, paddelt nun aber seinen sechsten Olympischen Spielen entgegen – mit neuem Antrieb und in einer der härtesten Kanu-Disziplinen überhaupt.
Das Gesicht des deutschen Kanurennsports bei den „Finals“ in Berlin trägt Vier-Tage-Bart, eine frisch rasierte Glatze und zwei, drei kleine Denkerfalten auf der Stirn. Ronald Rauhe, von vielen nur „Ronny“ genannt, leugnet seine inzwischen 38 Jahre nicht – freut sich aber trotzdem, wenn ihn am Spreeufer mal wieder ein Zuschauer auf Anfang 30 schätzt. „Das passiert allerdings nur, wenn die Haare wirklich ganz kurz sind“, lacht der Berliner, nachdem er sich in seiner Heimatstadt zwei weitere goldene Meisternadeln erpaddelte. Es sind die DM-Titel Nummer 64 und 65 für den Ausnahmekanuten, der seit zwei Jahrzehnten in der Spitze zu Hause ist und noch immer die meisten jüngeren Kollegen in den Schatten stellt. Sein Rezept ist die stetige Suche nach neuen Konzepten, nach neuen Entwicklungsmöglichkeiten. „Würde ich die nicht mehr sehen, wäre der Tag gekommen, meine Karriere zu beenden“, sagt der Routinier. Früher habe er Athleten belächelt, die auch im Spätherbst ihrer Laufbahn nicht vom Sport lassen konnten. „Heute bin vermutlich ich derjenige, über den die Jüngeren lachen“ klagt Rauhe, nicht ganz im Ernst. Sein berühmtes Lausbubengrinsen lässt sich auch über das Telefon erahnen. Wie man auf den vermeintlichen Hohn der Jungspunde reagiert, weiß er selbst natürlich am besten – mit Leistung.
Die Liste seiner Rekorde klingt beinahe aberwitzig: Im August nahm Rauhe zum 16. Mal an einer WM teil, für die er seit 1999 immer qualifiziert war. Fast 60 internationale Medaillen hat er insgesamt gewonnen, vier davon bei Olympischen Spielen. Kommendes Jahr in Tokio peilt der zweifache Familienvater seine sechste Olympia Teilnahme an. Tokio soll der letzte große Höhepunkt seiner einzigartigen Laufbahn werden, aber nicht zwingend das letzte Rennen. 2021 findet in Duisburg die Kanu-EM statt.
„Zunächst will ich abwarten, wie es bei Olympia läuft“
Denn mehrfach stand der Dauerbrenner schon kurz vor dem Aufhören, immer wieder zwangen ihn äußere Umstände, sich als Athlet neu zu erfinden. So auch nach seinen fünften olympischen Spielen in Rio, bei denen er nach Zielfotoentscheid die ersehnte Bronze-Medaille im K1 über 200 Meter gewann. Ein perfekter Karriereabschluss, dachten alle, dachte anfangs auch er selbst, damals mit knapp 35.
Doch erneut kam alles anders. Weil der Viererkajak über 1000 Meter aus dem Olympia-Programm gestrichen und auf 500 Meter verkürzt wurde. Eine mörderische Klasse, die Rauhe trotzdem reizte – wegen der kürzeren Strecke und der starken Kollegen im Boot. Zunächst war 2017 nur als Testjahr geplant, aber als der deutsche K4 in Weltrekordzeit WM-Gold gewann, war ihm klar: „Das war nicht unbedingt das richtige Signal, um die Karriere zu beenden.“ Seine Kollegen heißen nun Max Lemke, Max Rendschmidt und Tom Liebscher, beim Gewinn des WM-Golds im August waren sie 22, 25 und 25 Jahre alt. Und dazu Bootspapa Rauhe, 37, auf der wichtigen zweiten Position im Boot. „Betreutes Paddeln“ nannte er es kürzlich im Scherz. Einen Ausnahmevierer nennen es Experten. Journalisten fragen ihn oft, was ihn immer noch antreibt. Das Thema kommt so häufig auf, dass er die Antwort inzwischen schon ungefragt liefert. Es ist die Herausforderung, mit seinen Aufgaben zu wachsen, sich weiterzuentwickeln. Und auch ein bisschen der Trotz, es den Kritikern zu zeigen, die Athleten wie ihn für zu alt und festgefahren halten. „Außerdem bleibe ich durch die drei Jungs mental fit“, lacht Rauhe.
Der Kajakvierer ist die Königsdisziplin im Kanu-Rennsport. Sinnbild eines perfekten Zusammenspiels von vier Kraftbolzen, die ihre Physis harmonisch auf das Wasser bringen müssen. 500 Meter, rund 200 Paddelschläge, 75 Sekunden Vollgas, bis das Laktat in die Muskeln schießt. Rauhe spricht von der „härtesten Disziplin, die ich je ausgeübt habe“. Seine Position, die zweite nach dem Schlagmann Rendschmidt, gilt als das „Hirn“ des Boots. Er, der sich selbst als Bauchmensch bezeichnet, bringt seine ganze Erfahrung ein, weiß aber auch um die Stärken aller im Boot. „Wir haben Glück, dass es bei uns so gut zusammenpasst.“ So wie er ohnehin bescheiden von sich sagt, er habe Zeit seiner Karriere immer gute Partner und vor allem: gut funktionierende Mannschaftsboote gehabt.
Nach außen fokussiert sich beim Deutschen Kanu-Verband vieles auf ihn, den Routinier, der Sportwissenschaften mit dem Schwerpunkt Marketing studierte und daher um die Logik des Sich-Verkaufens weiß. Mehrfach übernahm er bereits Moderationsjobs, diese Auftritte machen ihm Spaß. Vielleicht sogar eine Möglichkeit für die Zeit nach der Sportlerkarriere? Einen direkten Fahrplan hat er noch nicht. Es gebe viele Optionen und er sehe sich gut aufgestellt, sagt Rauhe: „Ich werde jedenfalls nicht im luftleeren Raum hängenbleiben.“ Dabei helfen ihm sein Studium und sein früherer Arbeitgeber, die Bundeswehr. Dazu der Austausch mit Familie und Freunden, aber auch mit seiner von der Sporthilfe und der Werte-Stiftung vermittelten Mentorin, der Nestlé-Top-Managerin Béatrice Guillaume-Grabisch. Und dann gibt es da noch einen Wegbegleiter, den er eigentlich gar nicht wirklich kennt. Zumindest nicht persönlich: Tischtennis-Star Timo Boll. Beide sind Jahrgang 1981 und gehen seit über 20 Jahren fast im Gleichschritt durch ihr Sportlerleben. Boll war 1997 Juniorsportler des Jahres, Rauhe bekam die Auszeichnung ein Jahr später. Ein Unterschied aber trennt sie dann doch: Während Boll sagt, er wolle sich nicht mit dem Thema Karriereende beschäftigen, weil ihm das Angst mache, sieht es bei Rauhe anders aus. Angst habe er nicht vor einem Leben ohne Sport, ganz im Gegenteil: Er freue sich „auf alles, was noch kommt.“
(Veröffentlicht am 29.10.2019)