Herr Wolfermann, wie blicken Sie in Richtung Olympische Spiele? Ist es richtig, dass diese trotz der Pandemie stattfinden?
Klaus Wolfermann: Olympische Spiele sind ein großes gesellschaftliches Ereignis. Sie sind eine Vereinigung, ein Treffen und Austausch der Nationen. Deshalb ist es richtig und äußerst wichtig, dass die Olympischen Spiele stattfinden – auch für die Zukunft von Olympia, die allerdings aus meiner Sicht in vielerlei Hinsicht zu überdenken ist. Der Sportler muss wieder mehr im Vordergrund stehen und weniger die Wirtschaft. Die Ausgestaltung der Spiele von Tokio ist jedoch in der Tat schwierig, denn ohne Zuschauer fehlt das Salz in der Suppe.
Was bedeutet es für die Athlet:innen, dass die Olympischen Spiele ohne Publikum ausgetragen werden?
Für die Sportler wird es ganz schwierig, sich auf ihre Wettkämpfe einzustellen. Diese Situation sollte jeder im Vorfeld noch in sein mentales Trainingsprogramm einbauen. Einige werden das sicherlich besser hinbekommen als andere. Wenn ich da an meinen Speerwurf-Kollegen Johannes Vetter denke, mache ich mir keine Gedanken. Ich sehe, wie er marschiert, er ist programmiert, er ist vorbereitet. Es geht aber noch mehr verloren: die Gemeinschaft im Olympischen Dorf, auch im Deutschen Haus, dort, wo man zusammenwächst als Team, wo ein Austausch stattfindet, wo jeder viel vom anderen lernen kann – das fällt bei Sportlern und Zuschauern weg. Und das ist sehr schade.
Wenn Sie an die Spiele 1972 in München zurückdenken, wie haben Sie die Atmosphäre im Stadion damals erlebt?
Die Zuschauer spielten bei meiner Strategie für den Wettkampf eine wichtige Rolle. Ich wollte in dem Moment, als wir für den Finalkampf ins Stadion geführt wurden, als Erster unsere Gruppe anführen, um die Reaktion des Publikums zu hören und zu spüren. Die Menschen riefen meinen Namen, feuerten mich an mit Klatschen und Zurufen, das stabilisierte mein Selbstvertrauen. Auch während des Wettkampfs haben die Zuschauer ihren Teil dazu beigetragen, dass es am Ende zu Gold gereicht hat.
Wie viel macht der Kopf beim Speerwerfen aus?
Der erfolgreiche Athlet muss sich eine psychische Stärke erarbeiten, nicht in Abhängigkeit eines Beraters oder Psychologen, sondern eigenständig. Er muss sich immun machen von Einflüssen von außen. Und er muss sich für Qualifikation und Finale eine Strategie zurechtlegen. Die Qualifikation kann unter Umständen ein Stolperstein werden, wenn man diese zu leichtnimmt, selbst wenn man in einer herausragenden Verfassung ist.
Johannes Vetter gilt nach seinen Vorleistungen als absoluter Top-Favorit. Wie schätzen Sie ihn ein, ist das eine Bürde oder Vorteil für ihn?
Johannes Vetter hat sich in den vergangenen zwei Jahren eine sehr starke körperliche und psychische Stabilität erarbeitet, um in einem großen Wettkampf zu bestehen. Sein Leistungsvermögen ist momentan einzigartig. Er hat die richtigen Bewegungsabläufe derart automatisiert, dass er gar nicht mehr anders kann, es ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Dazu kommen eine immense körperliche Explosivität sowie der Wille, immer über 90 Meter zu werfen. Das ist fantastisch.
Vetter hat im Sporthilfe-Interview gesagt, wenn er es sich aussuchen könne, würde er dieses Jahr den Olympiasieg und nächstes Jahr den Weltrekord nehmen. Das haben Sie 1972 und 1973 vorgemacht. Trauen Sie ihm beides zu, vielleicht sogar einen 100-Meter-Wurf?
Den Olympiasieg soll er anpeilen, ganz klar. Aber es gibt bei Olympischen Spielen auch immer Überraschungen, es ist also kein Selbstläufer. Und was die 100-Meter-Marke angeht: Das ist schon sehr, sehr weit. Da muss Vieles stimmen, neben den körperlichen Voraussetzungen auch die tagesaktuellen Wettkampf-Bedingungen. Wind kann immer eine Rolle spielen. Aber wenn alles zusammenkommt, kann ich mir schon vorstellen, dass er diese Wunschmarke irgendwann übertrifft. Ich wünsche ihm, dass er gesund bleibt.
Neben Vetter treten Bernhard Seifert und Julian Weber in Tokio an. Wie schätzen Sie deren Leistungsfähigkeit ein?
Ich habe sie bei den Deutschen Meisterschaften beobachtet. Es sind gute Athleten, die sich aber an der ein oder anderen Stelle technisch noch verbessern können. Wenn sie das schaffen, dann denke ich, dass sie im Finalkampf dabei sein können. Ich wünsche ihnen, dass sie ihr bestes Niveau in Tokio abrufen können.
Bei den Frauen ist Christin Hussong die einzige deutsche Speerwerferin in Tokio. Was erwarten Sie von ihr?
Bei den Damen kann, wenn man die Wettkampfergebnisse der letzten Zeit anschaut, alles passieren. Christin ist nicht unbedingt die Favoritin, aber auf jeden Fall für eine Medaille gut. Es wird entscheidend sein, wer im Finale sein Vermögen am besten abrufen kann. Die Leistungsdichte ist sehr groß, aber ich rechne fest mit einer Medaille von Christin Hussong.
Zur Person:
Klaus Wolfermann
Klaus Wolfermann schrieb 1972 bei den Olympischen Spielen in München Sportgeschichte. Im fünften Versuch des Speerwurf-Wettbewerbs schleuderte er das Wurfgerät 90,48 Meter weit und wurde so mit zwei Zentimetern Vorsprung vor seinem großen lettischen Rivalen Janis Lusis Olympiasieger. 1973 warf Wolfermann Weltrekord (94,08 Meter). In beiden Jahren wurde er zum „Sportler des Jahres“ gewählt. 1978 beendete er seine Karriere. Wolfermann engagiert sich vielfältig für soziale Zwecke. Er arrangiert Benefiz-Spiele und Golfturniere, ist Sonderbotschafter für Special Olympics und Botschafter der Kinderhilfe Organtransplantation. 2011 wurde er in die von der Deutschen Sporthilfe initiierte „Hall of Fame des deutschen Sports“ aufgenommen. >>> zum ausführlichen Portrait auf hall-of-fame-sport.de