Silvia Neid, 111-fache Fußball-Nationalspielerin und langjährige Bundestrainerin, gewann mit dem DFB-Team mehrfach den EM- und WM-Titel sowie 2016 in Rio de Janeiro Olympiagold. Für ihr beeindruckendes Lebenswerk wurde die 58-Jährige von der Deutschen Sporthilfe mit der „Goldenen Sportpyramide“ ausgezeichnet und damit auch in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ aufgenommen. Neid, die seit 2017 die Scouting-Abteilung im Frauen- und Mädchenbereich des DFB leitet, traut im Interview mit der Deutschen Sporthilfe dem deutschen Team bei der am 6. Juli beginnenden Frauenfußball-EM in England den Titelgewinn zu, ordnet den öffentlichen Erwartungsdruck ein und benennt, was in Deutschland passieren muss, um den Frauenfußball weiter zu pushen.
Deutsche Sporthilfe: Frau Neid, Sie wurden von der Deutschen Sporthilfe mit der „Goldenen Sportpyramide“ für Ihr Lebenswerk geehrt. Wie fühlt sich das an, sind Sie bereits „fertig“?
Silvia Neid: Tatsächlich musste ich mich mit dem Begriff „Lebenswerk“ erst einmal auseinandersetzen. Aber letztlich spiegelt es mein Leben mit der Frauennationalmannschaft wider, und das war toll und erfolgreich. Ich habe danach einige Angebote bekommen, für andere Nationen oder auch für Vereine zu arbeiten, aber in gewisser Weise war die Frauen-Nationalmannschaft immer mein „Baby“, deshalb fällt es mir schwer, anderswo als Trainerin zu arbeiten. Aktuell bin ich beim DFB beschäftigt und meine Ziele sind, den deutschen Frauenfußball weiterhin zu unterstützen, indem ich Impulse gebe. Hier habe ich die Möglichkeit, den Fußball mit offeneren Augen zu betrachten und den Blick auf das große Ganze zu haben. Das macht mir sehr viel Spaß.
Verfolgen Sie auch die Entwicklungen im Männerfußball?
Ich schaue sehr gerne Männerfußball, um zu sehen, wie sich unsere Mannschaft mit dem neuen Trainer Hansi Flick, den ich auch schon sehr lange kenne, entwickelt. In der Vergangenheit war es oft so, dass die Trends im Frauenfußball vom Männerfußball abgeleitet wurden.
Jetzt steht für die Frauen die Europameisterschaft an. Was erwarten Sie von der deutschen Mannschaft?
Wir haben eine sehr gute Mannschaft, mit bestens ausgebildeten Spielerinnen. Viele sind beidfüßig, viele haben unheimliches Tempo und Spielwitz, wir haben einen guten Mix aus Erfahrung und jugendlicher Unbekümmertheit. Martina Voss-Tecklenburg kann auf einen ausgeglichenen Kader zurückgreifen, die Qualität ist da. Ich traue unserer Mannschaft sehr viel zu, für mich gehört sie zu einer der Top-Favoriten auf den EM-Titel.
Deutschland hat acht von bisher zwölf EM-Turnieren gewonnen, davon sechsmal hintereinander, war also ein Abonnementmeister. Aber heute ist der Titel kein Selbstläufer mehr.
Es war immer schwer, Titel zu gewinnen. Ich habe noch nie erlebt, dass irgendein Viertel-, Halbfinale oder Endspiel, egal ob EM, WM oder Olympische Spiele, einfach war. Darin steckt immer viel Arbeit. Es gefällt mir nicht, wenn diese Leistungen heute abgewertet werden nach dem Motto „früher war ja alles einfach“. Das war es nicht. Wir haben uns immer gut darauf vorbereitet. Und es war immer so, dass drei, vier, fünf Nationen hätten Europameister oder Weltmeister werden können. Es ist oft ein schmaler Grat und es hängt viel davon ab, wie der Weg bei einem großen Turnier verläuft.
Aber trotzdem: Die anderen Nationen haben aufgeholt?
Es ist unheimlich schwer, wenn man schon an der Spitze steht, dies immer wieder zu bestätigen. Auch Deutschland hat sich weiterentwickelt, nur waren gar nicht mehr so große Schritte möglich und die kleineren wurden weniger gesehen. Aber es stimmt, dass wir nach den Viertelfinal-Aus 2017 und 2019 inzwischen die Vormachtstellung verloren haben. Ich habe meiner Mannschaft früher, auch wenn es nur ein Freundschaftsspiel war, immer gesagt: „Wir dürfen nicht verlieren. Die haben so viel Respekt vor uns, das müssen wir hochhalten.“ Wenn die anderen Nationen merken, Deutschland schwächelt und ist nicht unschlagbar, dann treten sie selbstbewusster auf. Fußball hat auch sehr viel mit mentaler Stärke zu tun. Deshalb ist es an der Zeit, dass wir wieder oben anklopfen und zumindest mal wieder im Halbfinale oder im Finale stehen.
Wie groß ist der Druck auf die Mannschaft?
Vor der Heim-WM 2011 hieß es, es wäre ohnehin klar, dass Deutschland gewinnt. Der Druck war extrem hoch und es war schwierig, damit klarzukommen. Die große Aufmerksamkeit, die wir hatten, war für uns neu und belastend. Heute ist es vielleicht gar nicht so schlecht, wenn wir in der öffentlichen Wahrnehmung nicht unbedingt der Topfavorit sind und befreiter aufspielen können.
Sie haben die Aufmerksamkeit angesprochen, andere Themen, die immer wieder diskutiert werden, sind Anerkennung und Respekt. Wo sehen Sie den Frauenfußball in Deutschland aktuell?
Der Frauenfußball hat in Deutschland eine große Entwicklung genommen. Von 1982 bis heute haben viele Personen, zum Beispiel DFB-Präsidenten, Trainerinnen, Spielerinnen, für den Frauenfußball gekämpft – anfangs war es nicht immer schön, sich Macho-Sprüche anhören zu müssen. Heute gibt es sehr viel Respekt, weil einfach guter Fußball gespielt wird. Aber was wir brauchen, ist, dass die Entscheider hinter dem Frauenfußball stehen, in den Vereinen und Verbänden, dann passiert auch was. Dann interessieren sich die Medien, dann die Sponsoren. Nur so können wir es schaffen, den Frauenfußball weiter zu pushen.
Und es helfen Erfolge…
Wir müssen bei der EM die Gelegenheit nutzen, dass vier Wochen tagtäglich über Frauenfußball berichtet wird. Man wird gesehen – und dann muss man eben auch gut spielen und weit kommen. Das hilft! Dann gibt es einen großen Zulauf von Mädchen in die Vereine und unsere Randsportart, die Frauenfußball im Vergleich zum Männerfußball noch ist, kann wachsen.
Die EM findet im „Mutterland des Fußballs“ statt, welche Stimmung erwarten Sie vor Ort?
In England ist gerade ein Frauenfußball-Boom ausgebrochen. Dort passiert genau das, was ich eben meinte: Alle sind sich einig. Der Fußball ist hipp, und das leben alle, sie haben gute TV-Verträge und es fließt auch Geld. Die Stadien werden voll sein.
Abdruck des Interviews honorarfrei. Quelle: Deutsche Sporthilfe.
Zur Person
Silvia Neid (*2. Mai 1964 in Walldürn (Baden-Württemberg)
Silvia Neid ist das Aushängeschild des Frauenfußballs in Deutschland. Die 111-fache Nationalspielerin, während ihrer aktiven Zeit von der Deutschen Sporthilfe neun Jahre gefördert, krönte ihre Laufbahn als erfolgreiche Trainerin mit dem Gewinn der Olympischen Goldmedaille 2016 in Rio de Janeiro, zuvor mit den Titeln bei Europameisterschaften (Spielerin: 1989, 1991 und 1995 & Trainerin: 2009 und 2013) und bei der Weltmeisterschaft 2007. Dreimal wurde sie von der FIFA als Welttrainerin des Jahres gekürt (2010, 2013 und 2016). Im Jahr 2021 wurde Neid mit der „Goldenen Sportpyramide“, der wertvollsten Auszeichnung im deutschen Sport für ihre Lebenswerk geehrt und damit auch gleichzeitig in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ aufgenommen. Die feierliche Preisübergabe fand am 20. Mai 2022 in Berlin statt.
Zum ausführlichen Portrait von Silvia Neid
Über die Deutsche Sporthilfe
Die Deutsche Sporthilfe begleitet seit 1967 deutsche Nachwuchs- und Spitzensportler:innen auf dem Weg in die Weltspitze. Seit ihrem Bestehen hat die Deutsche Sporthilfe bereits mehr als 54.000 Athlet:innen aus über 50 Sportarten mit rund 537 Millionen Euro an Fördermitteln sowie mit zahlreichen Maßnahmen zur persönlichen und schulischen bzw. beruflichen Entwicklung unterstützt. Mit Erfolg: Sporthilfe-geförderte Athlet:innen gewannen bislang 282 Goldmedaillen bei Olympischen Spielen sowie 362 Mal Gold bei den Paralympics.