Zehnkampf-Ikone Frank Busemann war erst 21, als er bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta sensationell Silber gewann und über Nacht Promi-Status erlangte. Shooting-Star Niklas Kaul ist heute 21 und hat die Olympia-Norm für Tokio 2020 in der Tasche. Im Doppelinterview sprechen die beiden Athleten über Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die WM in Katar und große Ziele.
Deutsche Sporthilfe: Niklas, Du bist jetzt 21 Jahre alt, im gleichen Alter war Frank Busemann bei seiner olympischen Silbermedaille 1996 in Atlanta. Gibt es Parallelen zwischen Euch?
Busemann: Es gibt vor allem einen Unterschied: Niklas weiß, wie Zehnkampf geht – ich wusste das damals nicht. Vor Atlanta hatte ich erst vier Zehnkämpfe absolviert und bin total unbedacht und ohne Druck in den Wettkampf gegangen. Letztes Jahr habe ich Niklas bei der EM in Berlin erlebt und war sehr beeindruckt, wie „alt“ er im Kopf bereits ist, total abgeklärt. Als wäre er schon zehn Jahre auf höchstem Niveau dabei. Wäre ich mit 25 mental genauso stark gewesen wie Niklas heute, wäre meine Karriere auch anders weitergegangen.
Kaul: Ich glaube, ohne Frank als Athlet gekannt zu haben, wir wollten beide schon in jungen Jahren die Großen und Alteingesessenen des Zehnkampfs ärgern. Ihm ist das damals gelungen und ich hoffe, mir gelingt es zuerst in Doha und dann vielleicht auch in Tokio.
Deutsche Sporthilfe: Mit welchen Zielen fährst Du zur WM, die für Dich erst im Oktober losgeht?
Kaul: Ich will dort Spaß am Zehnkampf haben. Meine großen Ziele für dieses Jahr waren der U23-EM-Titel und die Olympia-Norm. Jetzt muss ich sehen, was bei der WM noch geht, wer die Form am besten konserviert hat. Wenn ich noch einmal in Regionen wie bei der U23-EM vorstoßen kann, dann schauen wir, wie viele vor mir sind. Rechnen sollte man aber erst vor den abschließenden 1500 Metern, egal wie gut oder eben auch nicht gut ich unterwegs bin.
Busemann: Genau das meine ich: So etwas hört man eigentlich nur von 26- oder 28-jährigen Zehnkämpfern. Den Fokus so auf die eigene Leistung zu lenken, da gehört viel dazu.
Deutsche Sporthilfe: Frank, Du hast viele Leichtathleten erlebt, arbeitest seit Jahren als TV-Experte. Wie siehst Du den derzeitigen Leistungsstand der deutschen Leichtathletik?
Busemann: Wir pendeln uns bei einem gesunden Mittelmaß ein. Die Leichtathletik-Welt wird größer, globaler. Unsere klassisch starken Disziplinen schwächeln teilweise, dafür gibt es andere, die vor sechs, sieben Jahren nicht mehr so auf dem Schirm waren. Natürlich kann es immer besser sein. Aber der momentane Leistungsstand ist zufriedenstellend und der Weg richtig.
Deutsche Sporthilfe: Bei den vergangenen drei WMs waren die deutschen Zehnkämpfer immer Medaillengaranten. Was traust Du den deutschen Startern in Doha zu?
Busemann: Wenn sie durchkommen, immer eine Medaille. Natürlich sehe ich Titelverteidiger Kévin Mayer ganz weit vorne. Aber auch er hat schon Zehnkämpfe nicht beendet, zuletzt bei der EM in Berlin. Auf dem Papier ist er der Stärkste, und dann kommen schon die Deutschen.
Kai Kazmirek rechne ich Chancen aus und Niklas ist mit seiner Vorleistung ein Medaillenkandidat.
Die Konkurrenz hat ihn nun auf dem Schirm. Anschleichen kann er sich nicht mehr. (lacht)
Deutsche Sporthilfe: Niklas, Deine Bestleistung steht inzwischen bei 8572 Punkten, nur 134 Punkte weniger als Franks 8706 aus Atlanta. Wann knackst Du ihn?
Kaul: In Doha definitiv noch nicht. Ich hoffe natürlich, dass ich irgendwann in diese Regionen vorstoßen kann, idealerweise 2020 in Tokio oder 2024 in Paris. Aber ich bin mittlerweile in einem Alter, in dem man nicht mehr einfach so 150 oder 200 Punkte pro Jahr drauflegt. Generell sollte man sich mit diesen Rechnereien auch nicht allzu sehr beschäftigen und sich nicht auf eine bestimmte Punktzahl versteifen.
Deutsche Sporthilfe: Der Weltrekord des Franzosen Kévin Mayer liegt seit vergangenem Jahr bei 9126 Punkten – ist das schon einer für die Ewigkeit?
Busemann: Nach oben ist immer etwas möglich. Mayers Rekord wird ein paar Jahre stehen und er hätte sicher noch 20 Jahre länger Bestand, wenn er die 1500 Meter so gelaufen wäre, wie er es kann. Trotzdem war er in neun Disziplinen schon nahezu perfekt. Ich weiß nicht, wie man dort rankommen soll. Aber wer hätte vor fünf Jahren schon mit 9126 Punkten gerechnet?
Deutsche Sporthilfe: Beim Streben nach immer krasseren sportlichen Leistungen schwingt das Thema Doping stets unweigerlich mit. Hat sich die Situation diesbezüglich verbessert?
Busemann: Es wird besser, aber die Leichtathletik ist noch nicht durchweg sauber. Ich habe die große Hoffnung, dass sich da etwas in die richtige Richtung tut. Etwa die Tatsache, dass Urinproben eingefroren und vielleicht erst nach acht Jahren aufgetaut werden. Dennoch werden die, die bescheißen, immer einen Schritt voraus sein. Wir müssen schauen, dass wir dieses Nachziehen nicht zu groß werden lassen. Letztendlich bin ich davon überzeugt, dass Weltklasseleistungen sauber möglich sind. Deswegen hat die Leichtathletik für mich auch nicht ihren Reiz verloren. Ihr großes Dilemma ist eben, dass man konkret an Zahlen ablesen kann, ob jemand gut war oder nicht. Das ist zum Beispiel beim Fußball anders.
Kaul: Mir ist vor allem die Botschaft wichtig, das große Leistungen auch ohne Doping möglich sind. Das muss man den Nachwuchsathleten sagen und sie motivieren. Den Traum von Olympia kann man sich auch rein durch Training, Ehrgeiz und Leidenschaft erfüllen.
* 26. Februar 1975 in Recklinghausen
Sporthilfe-gefördert von 1992-2000
Größte Erfolge: Olympia-Zweiter 1996, WM-Dritter 1997
* 11. Februar 1998 in Mainz
Sporthilfe-gefördert seit 2015
Größte Erfolge: EM-Vierter 2018, U23-Europameister, U20-Weltmeister
Deutsche Sporthilfe: Deinen Traum von Olympia realisierst Du aller Voraussicht schon in Tokio. Mit Deiner Speerwurf-Bestleistung wärst Du 2016 in Rio übrigens 15. bei den Spezialisten geworden ...
Kaul: Das Problem ist vielmehr, dass ich damit in Deutschland nur Sechster oder so wäre. (lacht) Momentan bin ich ganz froh, dass ich Zehnkämpfer bin – selbst wenn das Niveau auch im Zehnkampf nirgendwo so hoch ist wie hierzulande. Ich kann aber nur schwer nachvollziehen, wenn ein gesunder Zehnkämpfer zu einer Einzeldisziplin zurückwechselt.
Busemann: Da hat er Recht. Die finale Kraftanstrengung, das Hinfiebern auf diese zwei Tage, das Wechselbad der Gefühle, dieses zehnmalige Fokussieren – das gibt es nur im Zehnkampf. Und wer sich diesen Bazillus einmal eingefangen hat, der will nichts Anderes mehr – auch wenn’s wehtut.
Wenn es den Zehnkampf nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.
Deutsche Sporthilfe: Letzte Frage: Was muss passieren, damit Niklas Kaul am 6. August 2020 über Nacht zu einem ähnlich umjubelten Star wird wie Frank Busemann anno 1996?
Busemann: Er müsste Olympia-Gold gewinnen. Ich war damals ein Nobody, alle fragten sich, wie lange hält der das durch, der ist ja eh nur eine Eintagsfliege. Und mein ganz großer Vorteil war die Zeitverschiebung. Die Leute kamen von der Arbeit und blieben bis spätabends am Fernsehen dran. In Tokio ist am deutschen Nachmittag schon alles vorbei.
(veröffentlicht am 19. September 2019)