Während die meisten führenden Hockey-Nationen auf immer professionellere Strukturen zurückgreifen können und zentrale Programme fahren, geht die deutsche Hockeynationalmannschaft einen anderen Weg. Mit Erfolg: Anfang des Jahres gewannen die „Honamas“ sensationell den Titel bei der Weltmeisterschaft in Indien.
Mats Grambusch muss schmunzeln. Nein, er und seine Nationalmannschafts-Kollegen bekommen vor einem Länderspiel das Trikot, Strümpfe und Stutzen nicht fein säuberlich in der Kabine bereitgelegt, geschweige denn geputzte Schuhe. Saubere Schuhe sind für den Mannschaftskapitän ohnehin das kleinste Problem, vielmehr stand er bis vor Kurzem noch vor der Herausforderung, dass er keinen Schuh-Ausstatter hatte. „Es gab Zeiten, da musste ich meinen Mitspieler Chrissi Rühr nach Schuhen fragen. Zum Glück hat sich das aber mittlerweile erledigt“, erzählt Grambusch mit einem Augenzwinkern. „Aber unabhängig davon: Ich glaube, dass jeder in der Lage sein sollte, sein Trikot selbst zum Spiel mitzubringen.“ Die Rahmenbedingungen der Hockey-Nationalmannschaft, das zeigt allein dieses Beispiel, sind weit entfernt von denen der Kollegen aus dem Fußball. Einen negativen Einfluss auf die Erfolgsbilanz hat dieser Umstand jedoch nicht. Seit Jahrzehnten ist Hockey die erfolgreichste Teamsportart Deutschlands und seit je her ein Medaillenfavorit bei internationalen Großereignissen.
Der gewonnene Weltmeistertitel Anfang des Jahres in Indien sorgte „trotzdem“ für außerordentliche Begeisterungsstürme – bei den Spielern auf dem Platz, für die es nach dem von Torhüter Jean Danneberg abgewehrten Penalty gegen Titelverteidiger Belgien zum 8:7-Erfolg kein Halten mehr gab. Und ebenso in der Heimat, wo hunderte begeisterte Fans die Weltmeister bei deren Rückkehr am Frankfurter Flughafen empfingen und sich auch zu später Stunde um kurz vor Mitternacht beim anschließenden Empfang in Köln nicht davon abhalten ließen, Autogramme zu holen und Selfies zu machen. „So etwas habe ich noch nie erlebt, das war sensationell“, zeigt sich Timur Oruz, der im Finale immerhin bereits sein 107-tes Länderspiel bestritt, auch Monate später noch von der Begeisterung überwältigt.
„Bei unserer Rückkehr wurde mir durch die vielen Fans erst richtig bewusst, was wir erreicht haben.“
Der WM-Titel ist selbst für die erfolgsverwöhnte Hockey-Nationalmannschaft etwas Besonderes. Es ist der Erste seit 17 Jahren. Auch der letzte EM-Titel von 2013 liegt bereits zehn Jahre zurück, so dass der aktuellen Spielergeneration bis dato das Manko anhaftete, nicht mehr ganz oben stehen zu können. „Die letzten acht, neun Jahre waren bitter“, sagt Kapitän Grambusch, denn zu oft gingen die engen Entscheidungsspiele verloren. Dabei gilt die Mannschaft als eine der talentiertesten der letzten Jahre, „vielleicht sogar talentierter als die ein oder andere, die Olympia-Gold gewonnen hat“, lobt der aktuelle Bundestrainer André Henning. Gemeinsam mit seinem Betreuerteam arbeitete Henning deshalb zuletzt insbesondere daran, das Team wettkampfstabil und entscheidungssicherer zu machen. Dafür wurden die klassischen Hierarchien innerhalb der Mannschaft aufgelöst, damit sich jeder gemäß seiner Stärken einbringen kann. Mit Erfolg.
Während die anderen führenden Hockey-Nationen wie Indien, Australien, Belgien, die Niederlande und Großbritannien zentralisierte Programme fahren, bei denen die Nationalspieler regelmäßig bis zu vier Tage pro Woche gemeinsam trainieren, geht Deutschland einen Sonderweg. Ein Grund dafür ist der geografische Faktor. Anders als etwa in Belgien oder den Niederlanden können Deutschlands Nationalspieler nicht aus allen Teilen des Landes zum täglichen Training zusammenkommen. Und in Ländern wie Indien oder Australien gibt es kein Ligasystem, dort werden die Spieler für das, was sie für ihr Land tun, von den Verbänden entlohnt – und das zum Teil fürstlich. Hierzulande sind die Clubs die Grundlage für jeglichen Hockeybetrieb. „Die Vereine sind neben der Sporthilfe unsere einzigen Förderer“, sagt Grambusch, „ohne sie würden viele Spieler bereits mit 24 oder 25 Jahren ihre Karriere beenden, um in den Beruf einzusteigen.“
Wie es beruflich weitergehen soll, bereitet Timur Oruz momentan schlaflose Nächte. Der Medizinstudent sollte zurzeit eigentlich in der Klinik stehen und Vier-Wochen-Blöcke absolvieren, aber „das ist in einem Jahr mit WM, EM und Olympia-Vorbereitung für mich nicht möglich.“
„Die Sporthilfe spielt für uns eine gigantische Rolle, ohne sie wüsste ich nicht, wie wir die Nationalmannschaft weiterhin in der Form aufstellen könnten.“
Mannschaftskapitän Mats Grambusch
Stattdessen legt er Urlaubssemester ein, womit sich aber der Berufseinstieg weiter verzögere und die Chancen auf die später angedachte Selbstständigkeit sinken. Darum denkt der 28-Jährige aktuell ernsthaft darüber nach, sein Studium komplett zu canceln und etwas ganz anderes zu machen. Und auch Mats Grambusch, der seit zwei Jahren dabei ist, seine eigene Immobilienfirma aufzubauen, muss Abstriche machen. „Die mache ich aktuell nicht im Sport, weil ich nach wie vor Weltklasse performen möchte, sondern im Job – und darunter leidet natürlich meine Selbstständigkeit“, sagt der 30-jährige frisch gebackene Familienvater und fügt etwas konsterniert hinzu: „Das ist eben so, wenn man Leistungssportler ist.“ Ein Lichtblick im Alltag der Athleten: die Unterstützung aus Frankfurt.
„Die Sporthilfe spielt für uns eine gigantische Rolle“, so Grambusch, „wenn es die Sporthilfe nicht gäbe, wüsste ich nicht, wie wir es schaffen sollten, die Nationalmannschaft weiterhin in der Form aufzustellen.“ Sie sei zum einen die finanzielle Grundversorgung, zum anderen schätze das Team die Angebote im Bereich der beruflichen Entwicklung, vom Nachhilfe-Unterricht bis hin zum Mentorenprogramm. Mit dieser Unterstützung im Rücken geben die Nationalspieler weiter Vollgas, „aus Liebe und Leidenschaft für unseren Sport“, wie Oruz betont.
„Bei allen Widrigkeiten, die der hohe Einsatz mit sich bringt, möchte ich das alles nicht missen und bin stolz und froh, Teil dieses Teams zu sein.“
Exakt diese Einstellung schätzt der Bundestrainer an seinen Spielern: „Die Lust auf Entwicklung und Erfolg und maximale Eigenmotivation sind das, was wir brauchen“, so Henning, der den scheinbaren Nachteil eines dezentralen Systems in einen Wettbewerbsvorteil umdrehen möchte. Denn einerseits müssen die Athleten zwar eine extreme Eigenverantwortung mitbringen, da er „nicht morgens an der Bettdecke ziehe“, damit sich die Jungs ein gutes Frühstück machen und dann zum Frühtraining gehen. Andererseits bringe das System aber eben auch viele Freiheiten mit sich. Wer das für sich erkenne, könne viel zusätzliche Energie daraus ziehen.
Und dennoch: Rund 100 Tage im Jahr kommen die „Honamas“ im Rahmen von Länderspielen, Welt- und Europameisterschaften und nicht zuletzt in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele zusammen. Auch als aktueller Weltmeister muss sich das Team für das große Ziel im kommenden Jahr noch qualifizieren. Die erste Chance bietet sich bei der Heim-EM im August in Mönchengladbach, bei der sich allerdings nur der Europameister das Ticket für Paris sichern kann. Und wer sich im Hockey ein wenig auskennt, weiß: Die Konkurrenz ist mit Belgien, den Niederlanden, Großbritannien und auch Spanien allein auf dem heimischen Kontinent enorm, das Spielvermögen auf Weltklasse-Niveau. „Zwischen Viertelfinale und Finale ist alles drin“, sagt der Bundestrainer. Wie schon bei der WM wird es die Aufgabe sein, „vermeintliche Kleinigkeiten so zu drehen, dass die knappen Spiele gewonnen werden“. Bis zu 10 000 Zuschauer in einem vollbesetzten Hockey-Stadion könnten das Übrige dazu beitragen. Die Nationalmannschaft will die Euphorie nutzen, den der WM-Titel in Deutschland entfacht hat – über die „Hockey-Bubble“ hinaus: Nicht nur dass, sondern die Art und Weise, wie der WM-Titel gewonnen wurde und wie das Team aufgetreten sei, habe viel Begeisterung entfacht. „Viele Menschen, die ansonsten kein Hockey schauen, finden es cool, dass da eine Nationalmannschaft ist, die für etwas steht und Vorbildcharakter hat“, ist Henning überzeugt. Entsprechend selbstbewusst betont Kapitän Mats Grambusch die eingangs erwähnte Bodenständigkeit des Teams: „Bei uns weiß jeder, welches Trikot er für welches Spiel einpacken soll und wird auch weiterhin seinen Schläger sauber machen und die Schuhe selbst zum Spiel mitbringen.“ Bei der Heim-EM am liebsten bis zum Finale am 27. August in Mönchengladbach.
(Veröffentlicht am 24.07.2023)
Erschienen im Sporthilfe Magazin - Zur kompletten Ausgabe (1.2023)
Olympiasiege, drei WM- und acht EM-Titel stehen auf dem Konto der Honamas
aktuelle Nationalspieler gewannen 2013 unter André Henning die Junioren-WM
der zwölf Bundesliga-Vereine stellen aktuell mindestens einen Nationalspieler
Studenten befinden sich unter den 19 im Top-Team geförderten Athleten
„Leistung. Fairplay. Miteinander.“ par excellence
Die Sporthilfe unterstützt die Spieler des erfolgreichen Weltmeisterschaftskaders aktuell über die Top-Team- sowie die Mercedes-Benz Elite-Förderung. Die studierenden Athleten können zudem das Deutsche Bank Sport-Stipendium erhalten. Im Juni 2023 hat der Sporthilfe-Gutachterausschuss darüber hinaus die Aufnahme in die ElitePlus-Förderung bewilligt. Mit diesem besonderen Förderbaustein unterstützt die Sporthilfe gemeinsam mit ihrem Nationalen Förderer PwC Medaillenkandidat:innen in der unmittelbaren Vorbereitung auf kommende Olympische Spiele. Für Hockey als Teamsportart werden dafür zusätzlich 11.000 Euro pro Monat als Pool-Förderung bereitgestellt, die das Team im Sinne des Sporthilfe-Wertedreiklangs „Leistung. Fairplay. Miteinander.“ untereinander verteilt.